07.01.1929:
Ringverein verboten
Autorin: Susanne Tölke
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Fünfeinhalb Jahre Knast, das letzte Jahr hamse Dir erlassen wegen guter Führung, und was nu? Eine Frage, die im Jahr 1890 mehrere Herren in der Berliner "Schnurrbartdiele" im Scheunenviertel erörterten. Jeder von ihnen hatte einschlägige Erfahrung und wusste, wie schwer es war, wieder Fuß zu fassen, wenn man gerade aus der Haftanstalt kam. Und so beschlossen die Ex-Häftlinge, eine solidarische Vereinigung für ihresgleichen zu gründen, den "Reichsverein ehemaliger Strafgefangener". Mitglied durfte nur werden, wer vorbestraft war. Die Schnurrbartdiele wurde zum ersten Vereinslokal erklärt, und schon bald gaben sich die Hilfesuchenden die Klinke in die Hand. Der Interessenverband funktionierte, und weil jeder Kiez einen eigenen Verein gründete, gab es nach ein paar Jahren schon zwölf davon.
Was machen zwölf Vereine mit gleichen Interessen? Sie gründen einen Dachverband. Im Jahr 1898 entstand so der "Ring Berlin", dessen Geschichte wir dem Berliner Autor Peter Feraru verdanken, der sich mit Akribie durch Kriminalakten und Gerichtsprotokolle wühlte und darüber das wunderbare Buch "Muskel-Adolf und Co" verfasste.
Der Name Ringverein hatte nichts mit dem Sport zu tun, obwohl viele Mitglieder Ringer und Boxer waren - er spielte vielmehr auf den ringförmigen Zusammenschluss an. Die einzelnen Ringvereine schmückten sich mit blumigen Namen, wie "Rolandseiche", "Deutsche Kraft" oder "Immertreu".
Die Satzung wurde verfeinert, jeder Bewerber musste jetzt mindestens zwei Jahre Zuchthaus abgesessen haben, allerdings nicht wegen Mordes oder wegen eines Sexualdelikts - damit wollten die Ringbrüder nichts zu tun haben. (Der Kandidat musste zudem zwei Bürgen vorweisen, die bereits Mitglieder des Vereins waren. Es folgte die Probezeit, in der der Bewerber bei Einbrüchen Schmiere und bei Vereinssitzungen Wache stand - als Vereinslokale wurden grundsätzlich nur Wirtschaften mit Hinterausgang gewählt.) Wenn der Bewerber sauber war, wurde er in einer feierlichen Zeremonie aufgenommen, die in nichts den Ritualen der bürgerlichen Vereine nachstand. Über dem Stammtisch von "Immertreu" prangte die Vereinsfahne mit dem Motto:
"Lass Neider neiden, Hasser hassen, was Gott uns gönnt, muss man uns lassen."
Zu Sitzungsbeginn sangen alle das Vereinslied "Ja, wir sind Brüder", dann musste der Kandidat schwören, alles geheim zu halten, was im Verein besprochen wurde und keines der Mitglieder je aufs Kreuz zu legen. Anschließend wurden die Statuten verlesen: "Der Verein hat es sich zur Pflicht gemacht, seinen Mitgliedern in Notfällen und Krankheit zu helfen und ihre Frauen und Kinder zu unterstützen." Das sah dann so aus, dass einsitzende Vereinsbrüder regelmäßig Pakete bekamen und die Ehefrau Geld für Miete und Essen erhielt, allerdings auch ab und zu den unangemeldeten Besuch eines Ringbruders. Der wollte nur mal "Tach" sagen und gucken, ob die Gattin einen heimlichen Liebhaber hatte. War das der Fall, wurde sie aus der Liste gestrichen - das verlangte die Ganovenehre. Wie es sich für einen richtigen Verein gehört, gab es Frühlingstanz, Silvesterball und Gründungsfest - in Walterchens Ballhaus, im Haus Vaterland oder im Tanzpalast Femina.
Freilich - je mehr die Ringvereine expandierten, umso mehr verloren sie den Charakter eines sozialen Hilfsvereins für Exhäftlinge. Nach dem Ersten Weltkrieg stand der Gedanke, einander zu helfen und brüderlich zu teilen, nicht mehr im Vordergrund. Stattdessen wollte man das große Geschäft machen: Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Wettbetrug. Der Ring Berlin entwickelte sich zum Syndikat. Das merkte auch die Polizei, und am 7. Januar 1929 wurde der Ringverein "Immertreu", der größte seiner Art, gerichtlich verboten - obwohl er als Verteidiger Berlins berühmteste juristische Koryphäe engagiert hatte, Dr. Erich Frey. Dem wurde übrigens während der Verhandlung der teure pelzgefütterte Mantel aus der Anwaltsgarderobe geklaut. Doch da zeigte sich, dass die alte Ganovenehre noch funktionierte: Am Heiligabend desselben Jahres wurde an Dr. Freys Wohnungstür ein Überraschungspaket abgegeben. Als er es aufmachte, fand er seinen Pelzmantel - mit hochachtungsvollen Grüßen von "Immertreu".