Meinem Vater bin ich dankbar, dass er (und nur mir zuliebe!) überhaupt über seine Kriegserlebnisse gesprochen hat.
Dabei erinnert er sich einer besonderen Berliner Lokalität und hat seither den Wunsch etwas über deren Verbleib nach Kriegsende zu erfahren. Deshalb suche ich Informationen über diesen Ort.
Ich danke im voraus allen Lesern dieses Forums für ihre Mithilfe, für jeden noch so kleinen Hinweis und frage, wer kennt / kannte:
Was? Lokal (Gaststätte, Kneipe, Bar?)
v i e l l e i c h t „Haus der schwankenden Balken“ oder „Mars“?
schaukelnde Bilder / Tischpost / markanter Reim an der Wand
Wo? in Berlin, v i e l l e i c h t Nähe Friedrichstraße
Wann? Ende 1944 / Anfang 1945
Alles, was mein Vater dazu gesagt hat, gibt folgende Erzählung wieder:
In dem langen, schmalen Raum der Kneipe stehen verteilt kleine Tische.
Er und sein Kumpel, uniformiert wie die meisten männlichen Gäste, schieben sich durchs Gedränge. Frauen sind hier mit und ohne Begleitung. Sein Kumpel grinst breit: „Eh, verrenk’ dir nicht den Hals! Sieh` lieber mal nach oben.“
Im Zigarettenqualm schemenhaft zu erkennen fünf oder sechs Balken, mit Schnüren, daran die Bilder welche die Wänden zieren. „Ja und?“, fragt er, „Wann bewegt sich hier ´was?“ - „Wart`s ab!“
Neben den Tischnummern liegen Notizzettel und Bleistifte. „Willst Du eine von denen kennenlernen“, sein Kumpel weist mit dem Kopf zu einer Frau, „schreibst du ihr ´ne Nachricht und die Tischnummer drauf und bittest irgendwen, den Zettel bei ihr abzugeben. Ist hier so üblich.“
Buntes Volk an den Nebentischen; sicher nicht nur Soldaten auf Fronturlaub oder Durchreise; es ist die Zeit der Desserteure.
Und die der Feldjäger!
Die beiden sind gelassen; sie tragen ihre persönliche Sicherheit unter der Fliegeruniform: „Bescheinigung über einen kriegswichtigem Auftrag.
Zur vollen Stunde erstirbt das Gemurmel der Gäste. Gebannte Blicke wandern zur Decke. Ein kurzes Knarzen immitierter Tragebalken, dann drehen sich diese eine Viertelrunde um die eigene Achse, vor und zurück. Die Bilder der Wände beginnen zu schwingen, minutenlang. Schabend vertiefen sie die Rillen im Putz. Vor und zurück - in dem langen, schmalen Raum - vor und zurück, gedämpftes Licht und schwankende Wände im Tabackqualm - vor und zurück, wie ein Schiff im Seegang, eine Attraktion!
Später am Abend liest er im Vorraum zu den Toiletten den Spruch an der Wand:
Was überall ist Anstandspflicht, vergiß auch, lieber Gast, hier nicht.
Zahl einen Sechser nebenan, der Frau, die hier Toilettenmann.
Wär sie nicht noch Portier im Haus, so holt sie ihn Dir auch noch raus.
Und hätt´sie Zeit dies Amts zu walten, so würd´sie ihn Dir auch noch halten.’
Da in den folgenden Monaten Schönwalde wieder seine Station wurde, besuchte er das Lokal mit den schwankenden Balken noch oft.
Einmal wurde es bereits stiller im Raum, als die Stunde noch nicht voll war. Und dann bellte es schon: „Kontrolle! Ausweis! Urlaubsschein!“
Erfolglos tastet er seine leeren Taschen ab und ihm wird heiß! ‚Jetzt bist du dran’, schießt es durch seinen Kopf. Da fällt sein Blick auf die Tischpost und mit ‚Frechheit siegt!’ hat den rettenden Einfall! Gerade, als der mit der Kette und dem ovalen Schild vor der Brust schon fast vor ihm steht: er liest ‚Feldjäger’, drückt diesem entschlossen einen gefalteten Zettel in die Hand, mit weicher Stimme bittet er ihn: „Seien Sie so gut, würden Sie diese Nachricht für mich dort hinten am Tisch der Dame abgeben?“
Der Kettenhund stutzt - und gehorcht! Als er sich wieder umdreht, ist der Soldat in Fliegeruniform längst verschwunden. Text: Ina Merkel-Radtke