Wanderungen durch einen bibliophilen Kosmos

Der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski (1904-1997) ist dem Publikum - nicht nur in Ostdeutschland, aber auch dort - in Erinnerung, weil dieser „J.K." über zwei Talente verfügte: er liebte und erzählte gern interessante, kurzweilige Geschichten und er hatte ein Faible fürs Paradoxe. Einige nannten ihn rückblickend einen „linientreuen Dissidenten".

Jürgen Kuczynski entstammte einer linksliberalen bürgerlichen Gelehrtenfamilie, wuchs in einer Villa am Schlachtensee auf und wurde dennoch 1930 Kommunist. Er war seiner Partei loyal ergeben und brachte doch ihre Führer durch intelligenten Widerspruch und kritische Bemerkungen in Rage. Er war, was es – nach Meinung gewisser Experten – in der DDR gar nicht geben konnte: eine kritische öffentliche Instanz.

Kuczynskis Leistungen als Wirtschaftshistoriker wurden international anerkannt und kritisch reflektiert. 2x ist er für den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften vorgeschlagen worden, den er dennoch nie bekam. In der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft machte er Detektivromane bzw. „Krimis" salonfähig und verhalf einem Dürrenmatt-Stück zur Theaterpremiere.

Bücher und gute Bibliotheken waren seine Leidenschaft. Er war ein leidenschaftlicher „Bücherjäger". Und sein Haus in Berlin-Weißensee war Heimstätte der fast 200-jährigen Familienbibliothek Brandeis-Kuczynski. Nur in einem einzigen Raum gab es keine Bücher. Das war das Schlafzimmer, weil dort seine Frau Marquerite sie nicht dulden wollte. Sonst war sein Domizil eine große Bibliothek. Heute befindet sich die Kuczynski-Bibliothek, einst die größte Privatbibliothek Deutschlands, in den „Historischen Sammlungen" der Landes- und Zentralbibliothek Berlin (ZLB). Bücher, das weiß man, haben ihre Schicksale. Ein solches aber hatte auch die Kuczynski-Bibliothek. Von sechs Generationen – beginnend im Königsberg des 18. Jahrhunderts und endend fast an der letzten Jahrhundertwende in Berlin – wurden Bücher gesammelt, stets durch bemerkenswerte Zugänge ergänzt und über zwei Fluchten und Emigrationen – dezimiert zwar – gerettet.

Die Historie dieser Bibliothek und das Leben ihres „letzten Privatbibliothekars" wird in einer „Lange Nacht-Sendung" des Deutschlandfunks über Jürgen Kuczynski in drei Teilen erzählt.

Es kommen Menschen zu Wort, die dieses bibliophile Schatzkästlein und Jürgen Kuczynski kannten. Es wird erkundet, was den Wert dieser 6-Generationen-Gelehrtenbibliothek heute ausmacht. So wie einst um den lebenden Kuczynski gestritten wurde, so sind er und sein Werke heute noch Gegenstand der Kritik. Aber es kommen zugleich jene zu Wort, die den Kuczynski-Nachlass kennen, bewahren, pflegen und mit und an ihm arbeiten.

 Von Hans Christian Förster