Der Dichter als Journalist - Heinrich von Kleist und die „Berliner Abendblätter"

Von Walter G. Oschilewski

 

In Frankfurt/Oder am 18. Oktober 1777 geboren, kam der elfjährige Knabe zum erstenmal für einige Jahre in die preußische Hauptstadt, um nach dem Tode des Vaters bei dem Prediger S. H. Catel erzogen zu werden. Am 1. Juni 1792 trat er in das Garderegiment Potsdam ein, nahm am Rheinfeldzug teil und wurde 1797 zum Leutnant befördert. Zwei Jahre später nahm er seinen Abschied, um an der Heimatuniversität Frankfurt/Oder „Kameralia und Jus" mit geringer Befriedigung zu studieren.

Nach den wenigen Studiensemestern in Frankfurt/Oder suchte Heinrich von Kleist eine Anstellung im preußischen Zivildienst zu finden. 1800 gelang es ihm, als Volontär im preußischen Wirtschaftsministerium Struensees unterzukommen. Aber auch diese Tätigkeit befriedigte ihn nicht. Seine geistige und seelische Unrast, vom Zweifel an Beruf und Berufung hin und her geworfen, trieb ihn auf Reisen, die wahren Irrfahrten gleichkamen. Schon auf der geheimnisvollen Würzburger Reise, die er im Herbst 1800 mit dem schwärmerisch verehrten Freunde Louis von Brockes unternahm, erkannte er seine Bestimmung für die Dichtung. Nach kürzeren und längeren Aufenthalten in Paris, in der Schweiz, in Thüringen und Sachsen kam er Mitte Juni 1804 nach Berlin zurück, wo er zunächst im Finanzdepartement arbeitete. Fast jeden Abend war er im Hause des Fabrikanten Cohen, wo er unter anderen auch Adelbert von Chamisso begegnete.

Kurz vor dem Zusammenbruch Preußens nahm Kleist endgültig Abschied von der Beamtenlaufbahn, die wohl seinem Pflichtgefühl, nicht aber seiner individuellen Natur entsprach. Nach der Entlassung aus französischer Gefangenschaft in Joux und Chalonssur-Marne war er längere Zeit in Dresden und Prag und vollendete die „Penthesilea" und das „Käthchen von Heilbronn".

Anfang Februar des Jahres 1810 war Heinrich von Kleist, fast mittellos, abermals in Berlin.Im Gegensatz zu den früheren Aufenthalten in den Kreisen des Adels und des Militärs suchte er Anschluss in mehr schöngeistigen Zirkeln. Er wurde Mitglied der Christlichdeutschen Tischgesellschaft, in der er mit de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Varnhagen von Ense und dessen späterer Gattin Rahel Levin, deren Salon lange den Mittelpunkt des literarischen Berlin bildete, zusammentraf. Auch im Salon der Sophie Sander, der Gattin des gelehrten Schriftstellers und Verlagsbuchhändlers Johann Daniel Sander, ging er ein und aus. „Die Gesellschaft der lebenden Geister vermehrt sich jetzo in Berlin", schrieb Charlotte von Kalb an Jean Pauls Gattin. Heinrich von Kleist, Illustration von Peter Friedel, die der Dichter 1801 für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge anfertigen ließ Zu der Zeit, als der erste Band seiner Erzählungen mit dem „Michael Kohlhaas", der „Marquise von O." und dem „Erdbeben von Chile" bei Georg Reimer herauskam, befasste sich Kleist mit der Herausgabe und Redaktion einer neuen Zeitung, die er Berliner Abendblätter nannte. Sie war die erste Zeitung in der preußischen Hauptstadt, die täglich, und zwar in den Abendstunden - außer sonntags - erschien. Ihre journalistische Struktur war geradezu sensationell. Die „Berliner Abendblätter" pflegten den Lokalbericht in bisher unbekannter Form, brachten laufend die erst nachmittags ausgegebenen Polizeiberichte mit Mitteilungen über Verbrechen, Mord, Brand und Unglücksfälle. Das Blatt wurde in dem für die damaligen Gazetten ungewöhnlichen Oktavformat in großer Auflage gedruckt.

Ungewöhnlich waren auch die für die schnelle Verbreitung angesetzte Plakatwerbung und die Verteilung von Gratisexemplaren. Der Abonnementspreis betrug für das Vierteljahr, alsofür72Stück,„achtzehnGroschenklingendesCourant", daseinzelneBlattkostete acht Pfennig. Die Expedition befand sich zunächst Hinter der Katholischen Kirche Nr. 3, zwei Treppen hoch; sie wurde von der achten Ausgabe an in die Leihbibliothek von Kralowsky in der Jägerstraße 3 verlegt, da das bisherige Lokal den Andrang der Käufer und Verkäufer nicht mehr bewältigen konnte.

Den Berliner Abendblättern, deren erste Ausgabe am 1. Oktober 1810 erschien, war zunächst ein großer Erfolg beschieden. Das Boulevardblatt wollte auf eine vernünftige Art unterhalten, verfolgte aber mit den polizeilichen Notizen auch den Zweck, „das gutgesinntePublikum aufzufordern, seine Bemühungen mit den Bemühungen der Polizei zu vereinigen, um gefährlichen Verbrechern auf die Spur zu kommen". Darüber hinaus wurde Kleist aber auch bei der Herausgabe der Zeitung von geistespolitischen und vaterländischen Absichten bestimmt, wie er mit dem „Gebet des Zoroaster" in der ersten Ausgabe ankündigte. Zu den hervorragendsten Mitarbeitern der Berliner Abendblätter gehörten Adam Müller, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Carl von Savigny, Friedrich de la Motte-Fouqué. Kleist selbst war am Inhalt dieser eigenwilligen Berliner Tageszeitung mit großartigen Aufsätzen, Erzählungen und Anekdoten, von denen manche den Rang klassischer Kurzgeschichten haben, vertreten. („Allerneuester Erziehungsplan", „Über das Marionettentheater", „Die heilige Cäcilie", „Das Bettelweib von Locarno".) Helmut Sembder hat im Quellenregister zu der Faksimileausgabe der Berliner Abendblätter (Verlag J. G. Cotta, Stuttgart) auf Grund eingehender Untersuchungen die Herkunft fast aller Artikel nachgewiesen.

Vor allem war es Kleist aber darum zu tun, im Rahmen des Möglichen zu den gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen Stellung zu nehmen. In dem Augenblick jedoch, als er sich auf das politische Glatteis begab, begann der Kampf mit dem Zensor. Die Kritik Adam Müllers an der Gesetzgebung Hardenbergs z. B. rief den Unwillen der Staatskanzlei hervor. Es kam zu Verboten der Veröffentlichung vieler vorgelegter Artikel. Der liberale Staatskanzler war eben nicht liberal genug.

Durch die einschneidenden und willkürlichen Maßnahmen des Zensors wurden Geist und Form der kritischen und polemischen Seite der Zeitung aufgehoben. Hardenberg hatte durch Friedrich von Raumer Kleist wissen lassen, „dass man das Blatt mit Geld unterstützen wolle", wenn er sich entschließen könnte, „dasselbe so, wie es den Interessen der Staatskanzlei gemäß wäre, zu redigieren".

Kleist lehnte die Subvention unter diesen unwürdigen Bedingungen ab. Da der Polizeipräsident Gruner auf Anweisung Hardenbergs keinerlei politische Artikel mehr zuließ und auch die Polizeinachrichten der Redaktion immer seltener zur Verfügung gestellt wurden, war Kleist gezwungen, schon im zweiten Quartal den Inhalt der Abendblätter mit Artikeln und Nachrichten anderer, zum größten Teil auswärtiger Blätter zu bestreiten. Der wirtschaftliche Rückgang der anfangs so enthusiastisch begrüßten Zeitung setzte in dem Augenblick ein, als die Polizeiberichte fortfielen und damit die lokale Aktualität verlorenging.

Die rein literarischen Beiträge, die im Verhältnis zum schmalen Umfang des Blattes viel zu lang waren, fanden nicht das Interesse des großen Publikums. Mit der 76. Ausgabe vom 30. März 1811 mussten die Berliner Abendblätter ihr Erscheinen einstellen. Damit war eines der interessantesten, bedeutsamsten und - im Hinblick auf die Zensurmaßnahmen - beschämendsten Kapitel der Berliner Zeitungsgeschichte abgeschlossen. Kleist stand abermals vor den Trümmern seiner beruflichen Existenz.

 

Der Autor war Chefredakteur der Berliner Zeitung Telegraf. Oschilewski (1904-1987) war von 1949 bis zu seinem Tod Mitglied des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Für seine Tätigkeit im Vorstand und die jahrelange Herausgabe der Jahrbücher des Vereins erhielt er 1972 die Fidicin-Medaille und 1979 die Ehrenmitgliedschaft. Der Beitrag stammt vom 16. November 1963 aus dem „Telegraf".

 

Martin Mende sei für den Hinweis auf den Artikel und dessen Umsetzung gedankt!

 

Ergänzende Dokumente:

Berliner Abendblätter - 27.10.1810

Berliner Abendblätter - 15.11.1810

Berliner Abendblätter - 27.11.1810

Berliner Abendblätter - 30.03.1811

Der zerbrochene Krug (Zeittafel, Bemerkungen und Vergleich Originalfassung / Berliner Fassung)

 

Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte Berlins zu Heinrich von Kleist:
Bericht über einen Vortrag von Martin Runze über „Heinrich von Kleists literarisches Wirken in Berlin", in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 1907, S. 198-204;

Ingeborg Stolzenberg: Heinrich von Kleist zum 200. Geburtstag - Ein Ausstellungsbericht, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 1978, S. 370-375.