Moses Mendelssohn (1729–1786) im Verein für die Geschichte Berlins
Von Gerhild H. M. Komander

Zum 275. Geburtstag von Moses Mendelssohn, dem die Mendelssohn Gesellschaft [externer Link] ihren vierten Band der Mendelssohn-Studien (herausgegeben von Cécile Lowenthal-Hensel und Rudolf Elvers) widmete, stellte Eva J. Engel-Holland, die die Jubiläums-Gesamtausgabe der Werke von Mendelssohn herausgibt, ihrem Beitrag ein Zitat Christoph Martin Wielands voran, das ich in Erinnerung rufen möchte: „Es sind mir wenige Geister in Europa bekannt, deren Beifall für mich so vielen Reiz haben könnte als Herrn Mendelssohns und wenn etwas wäre, das mich stolz machen könnte, so wäre es gewis, von einem Mendelssohn gelobt zu werden.“ (An J. G. Zimmermann, 8. Oktober 1767).

Fünfzig Jahre zuvor schrieb I. Elbogen im „Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (19, 1929, Nr. 9, S. 429): „Wenn irgendeine Gemeinschaft Anlaß hat, Moses Mendelssohns in Dankbarkeit zu gedenken, so ist es die Jüdische Gemeinde Berlin, deren Ruhm durch ihn begründet wurde. In einer Zeit, wo weder Seelenzahl noch Leistung ihr Anspruch darauf verlieh, wurde sie durch ihn Mittelpunkt jüdischen Lebens, „eine Stadt und Mutter in Israel.“

Moses Mendelssohn freilich nannte sich in pietätvoller Treue gegen seine Geburtsstadt lange Zeit Moses Dessau, aber die Welt kannte ihn als den Berliner jüdischen Weltweisen, die von ihm ausgehende Richtung nannte man im lobenden und im tadelnden Sinne die Berliner Aufklärung. Die Berliner Jüdische Gemeinde hat auch Mendelssohn ausgezeichnet wie nie ein anderes Mitglied, ihn früh von Steuern befreit und zu einer Art Ehrenbürger ernannt.“

Heute ist es an uns, dem Andenken an Moses Mendelssohn einen Beitrag zu leisten. Wer die Besucherzahlen des Jüdischen Museums Berlin liest, die Besucherströme in der Großen Hamburger und Oranienburger Straße sieht, sollte meinen, daß die Kenntnis von Leben und Wirken Moses Mendelssohns weit verbreitet ist. So ist es nicht. Das 19. Jahrhundert liegt längst viel näher, die Zeit der Aufklärung – und damit auch ihre Zeitgenossen – wiegt schwer und ist nicht leicht zu erfassen. Wer den philosophischen Ballast nicht herumtragen möchte, greife zu dem ersten Band der Reihe „Jüdische Miniaturen“, den Hermann Simon der Biographie Moses Mendelssohns mit dem Untertitel „Gesetzestreuer Jude und deutscher Aufklärer“ widmet. Immer noch lesenswert sind natürlich die Darstellung von Sebastian Hensel über die Familie Mendelssohn (1879) sowie die Biographien von Mayer Kayserling (1862) und Alexander Altmann (1973).

Wer mehr über die Freunde Moses Mendelssohns, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai, wissen möchte, nehme Willi Jaspers Biographie „Lessing. Aufklärer und Judenfreund“ (2001) und den Essayband „Friedrich Nicolai 1733-1811“, hg. von Bernhard Fabian (1983) zur Hand. In diesem Zusammmenhang sei auch Christoph Schultes Buch „Die jüdische Aufklärung“ (2002) genannt (Rezension folgt).

Eine Publikation der besonderen Art ist das Heft „Der Moses Mendelssohn Pfad“, das Ulrich Eckhardt 1987 verfaßte. Das Heft ist rar, befindet sich aber durch eine Spende von Frau Dr. Stolzenberg im Besitz der Vereinsbibliothek. Umfangreiche und doch handliche Bücher zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde Berlin liegen mit dem Gemeinschaftswerk von Andreas Nachama, Julius H. Schoeps und Hermann Simon „Juden in Berlin“ (2001) und dem Titel „Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente“, herausgegeben von Reinhard Rürup (1995) vor. Ein wenig spezieller, doch nicht weniger wichtig, ist die Darstellung von Jörg H. Fehrs „Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712-1942 (1993). Wie wichtig der Jüdischen Gemeinde die Bildung war, zeigt in einer neuen Publikation I. M. Fassmann in Bezug auf die Frauenbewegung (vgl. Rezension in diesem Heft).

Aus: "Mitteilungen" 2/2004

Moses in Berlin
Von Ernst G. Lowenthal

Er war zwar im anhaltischen Dessau geboren, Sohn bedürftiger Eltern, am 6. September 1729, aber den weitaus größten Teil seines tätigen, schöpferischen, auch richtungsweisenden Lebens hat er, von 1743 an, im preußischen Berlin verbracht.

Fast mittellos, jedoch beseelt von einem ungeheuren Lerneifer und Wissensdrang, war der vierzehnjährige Moses Mendelssohn nach Berlin gekommen, den Spuren seines ihm so vertrauten, von ihm so verehrten, talmudbeflissenen Lehrers folgend, des Rabbiners David Hirschel Fraenkel (1707-1762), der erst kurz vorher aus Dessau als Oberland- und Stadtrabbiner nach Berlin berufen worden war.

Das war drei Jahre nach dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen. Fraenkel fand für seinen Schüler bei dem wohltätigen Heimann Bamberger (1764 in Berlin gest.) eine erste Unterkunft; er besorgte für ihn auch den einen oder anderen Freitisch und, indem er ihn mit Abschriften seiner Arbeiten beschäftigte, verschaffte er ihm sogar einen bescheidenen Erwerb. Mit Hilfe seiner kargen Ersparnisse kaufte sich Mendelssohn Bücher, auch um Deutsch zu lernen.

Dr. Alexander Kisch (1725-1803), ein junger Arzt aus Prag, half ihm im Lateinischen, der philosophisch gebildete Israel Samocz (etwa 1700-1772) machte ihn mit den Grundlagen von Mathematik und Logik bekannt, und ein anderer Arzt, Aron Salomon Gumperz (1723-1769), unterrichtete ihn in neuen Sprachen und der dazugehörigen Literatur. Er war es auch, der Moses Mendelssohn dem wohlhabenden Seidenfabrikanten Isaak Bernhard als Hauslehrer empfahl. Von 1754 an auch Buchhalter in Bernhards Geschäft, wurde Mendelssohn später der Geschäftsführer und schließlich der Teilhaber der Firma. Dadurch wirtschaftlich einigermaßen unabhängig geworden, konnte er fortan seinen Drang nach Bildung und Wissen weit leichter stillen als bis dahin.

Durch Gumperz kam er in Verbindung mit Lessing und dessen Berliner Kreis, insbesondere mit dem Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai (1733-1811). In diesem Zusammenhang erhielt Mendelssohn die erste Anregung zu seinen philosophischen und ästhetischen Schriften. Mit seinen "Philosophischen Gesprächen", 1755 erschienen, trat er erstmals vor die literarische Öffentlichkeit. Es folgten seine "Briefe über die Empfindungen". Durch den "Phädon" (oder "Über die Unsterblichkeit der Seele", 1767) wurde er berühmt.

So entwickelte sich manche Beziehung zu geistig führenden Persönlichkeiten, darunter Herder und Gleim, ja selbst Goethe. In Mendelssohns Berliner Haus in der Spandauer Straße 68 kam auch der schweizerische Theologe und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741-1801), dessen offizielle Bekehrungsaufforderung Mendelssohn, "im Herzen von der Wahrheit des Judentums überzeugt", viel Kummer und Ärger bereitete. In "Nathan der Weise" hat Lessing der versöhnenden Haltung seines Freundes Mendelssohn ein nachhaltig-eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Manche französischen Zeitgenossen nannten ihn den "Juif de Berlin" oder den "Juif à Berlin".

In und von Berlin aus hat sich Moses Mendelssohn auch für die Reformbestrebungen unter den Juden, für die Verbesserung ihrer geistigen und gesellschaftlichen Lage eingesetzt, wie in Preußen so auch anderwärts, in Sachsen, im Elsaß und in der Schweiz. Aus dieser Situation heraus entschloß er sich, seine Übersetzung des hebräischen Pentateuch, ursprünglich nur für seine Kinder gedacht und bestimmt, zu veröffentlichen (1780/83).

Die Wirkung in Europa war, wenn auch im innerjüdischen Bereich keineswegs einhellig, höchst beachtlich. Dies ermutigte ihn zu weiteren Übertragungen jüdisch-religiöser Schriften ins Deutsche und, darüber hinaus, überhaupt zur Förderung der Bemühungen um die Emanzipation der Juden, wie sie der mit ihm befreundete Kriegsrat Christian Wilhelm von Dohm (1751-1820) in seiner Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781) forderte. Zwei Jahre danach beschloß Mendelssohn sein philosophisch fundiertes Buch "Jerusalem" (oder "Über religiöse Macht und Judentum"), in dem er das Verhältnis von Kirche (beziehungsweise Synagoge) und Staat behandelt und für das Recht auf Glaubensfreiheit eintritt.

Dieses weitfassende und vielartige kulturelle und politische Werk hat Moses Mendelssohn im Berlin der Jahre 1755 bis 1785 vollbracht. Erst 1763, zwanzig Jahre nach seiner Niederlassung in der preußischen Hauptstadt, hatte er - und zwar nur für seine Person - den Schutzbrief Friedrichs des Großen erhalten, während seiner Witwe und seinen sechs überlebenden Kindern das Generalprivileg 1787 von Friedrich Wilhelm II. gewährt wurde. Im gleichen Jahr 1763 hatte Moses Mendelssohn die von der Königl. Akademie der Wissenschaften in Berlin zur Bearbeitung gestellte Preisfrage mit seiner Schrift "Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften" beantwortet. Er gewann den ersten Preis; Kant erhielt den zweiten.

1762 hatte er die Hamburgerin Fromet Guggenheim geheiratet (Mendelssohns zarte und innige Brautbriefe kamen 1936, zu seinem 150. Todestag, im Schocken-Verlag Berlin heraus, ein charakteristisches Zeitdokument). Der Ehe entsprossen zahlreiche Kinder, von denen mindestens sechs überlebten. Auch sie hatten reichen Nachwuchs.

So ist Moses Mendelssohn zum Gründer und Ahnen einer großen, über Berlins und Deutschlands Grenzen hinaus weitverbreiteten Familie geworden. Dieser entstammen, außer seinem berühmten Enkel Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 Hamburg - 1847 Leipzig), dem Komponisten und Dirigenten, dessen Wirken zeitweise auch mit Berlin eng verbunden war, eine stattliche Reihe namhafter Repräsentanten des wissenschaftlichen, künstlerischen und Wirtschaftslebens (die jedoch in ihrer Mehrzahl nicht mehr dem Judentum angehören).

Da, wo Moses Mendelssohn 1786, am Ende eines ungewöhnlichen Lebens, zur letzten Ruhe bestattet wurde, auf dem 1672 angelegten, aber 1943 von den nationalsozialistischen Machthabern vernichteten jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße, dem ältesten jüdischen Gottesacker Berlins, steht jetzt ein einfacher, heller Gedenkstein mit dem Namen und den Lebensdaten des Mannes.

Als sich vor wenigen Wochen sein Geburtstag zum 250. Mal jährte, fand in Berlin, gemeinsam veranstaltet vom Senat und der
Mendelssohn-Gesellschaft e.V. [externer Link], in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz ein offizieller Gedenkakt statt. Gleichzeitig wurde die vom Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek vorbereitete Moses-Mendelssohn-Ausstellung eröffnet und der vom Land Berlin gestiftete Mendelssohn-Preis zur Förderung des Toleranzgedankens bekanntgegeben. Rechtzeitig zu diesem Jubiläum erschien Band IV der "Mendelssohn-Studien" (Verlag Duncker & Humblot, Berlin), ausschließlich dem Gedenken an den Philosophen gewidmet. Die Landespostdirektion Berlin gab anläßlich des 250. Geburtstages eine 90-Pfennig-Sondermarke mit dem Bildnis Moses Mendelssohns heraus.

Immer wieder im Verlauf der letzten 150 Jahre ist, insbesondere in Berlin, dieses bedeutenden deutsch-jüdischen Denkers und Reformers ehrend gedacht worden; das gilt vor allem für das Jahr 1929, als sich die Veranstaltungen hauptsächlich auf Berlin und Dessau konzentrierten und von bemerkenswerten Veröffentlichungen in Buch- und Artikelform begleitet waren.

Im folgenden seien zwei solcher Publikationen, namentlich weil sie sich mit Mendelssohns Beziehungen zu Berlin beschäftigen, auszugsweise wiedergegeben; beide stammen aus der Feder der angesehenen Historikerin und Publizistin Dr. Bertha Badt-Strauss (1885 Breslau - 1970 USA), die im Jubiläumsjahr gemeinsam mit ihrem Mann, dem Studienrat Dr. Bruno Strauss (1889-1969), auch das Buch "Moses Mendelssohn, der Mann und die Berliner" (Welt-Verlag, Berlin 1929) herausbrachte.

Ihren Artikel "Mendelssohn und die Berliner" im Unterhaltungsblatt der "Vossischen Zeitung" (Berlin) vom 6. September 1929 schloß Bertha Badt-Strauss mit dieser Feststellung:
"Mendelssohns Leben im alten Berlin gliedert sich in drei große Abschnitte: da ist der Schüler aus Dessau im Kreise der jungen jüdischen und christlichen Aufklärer, von dem Doktor Gumperz bis zu den Alumnen des Joachimsthalschen Gymnasiums; der Mitarbeiter Lessings und Nicolais, der an der Berliner gelehrten Geselligkeit bescheiden teilnimmt; endlich der Hausherr in der Spandauer Straße, dessen Haus selbst zu einem in ganz bestimmten und fast einzigen Sinne wichtigen Mittelpunkte dieser alten Berliner Gesellschaft geworden ist. Denn hier ist allgemach aus Moses Mendelssohn, dem jüdischen Bürger der Residenzstadt Friedrichs des Großen, der Bürger der Welt geworden."

Im übrigen führte Bertha Badt-Strauss in dem Aufsatz - zunächst ausgehend von Mendelssohns Lehrern - u.a. aus:
Krönung und Anfang dieses gemeinsamen Strebens war es, als Gumperz den jungen Mendelssohn im Anfang des Jahres 1754 zu Lessing führte. "In einer sehr kleinen Stube in einem sehr kleinen Hause auf dem Nicolaikirchhofe", so beschreibt Nicolai, der sie gut kannte, einmal Lessings derzeitige Wohnung, die ja dann und wann nicht nur dem Besitzer, sondern auch den Stubengenossen, dem kleinen Bauzner Naumann, Obdach gewährte - einer etwas unklaren Personnage von großen Aspirationen, über den sich Lessing weidlich lustig machte und der auch in Mendelssohns Briefen manchmal mit einem Lächeln abgetan wird.

Diese kleine Stube war der Schauplatz jener berühmten "Morgengespräche" zwischen Lessing und Mendelssohn, wo zwischen sieben und neun Uhr in der Frühe hundert Probleme berührt und angeregt wurden, bald in raschem Vorbeigehen, bald in bedächtigerem Verweilen. Nicht weit davon lag das Haus in der Spandauer Straße, um dessen Wiedererkennung sich noch kürzlich ein Streit erhob - heute ist es längst dem Durchbruch der Kaiser-Wilhelm-Straße zum Opfer gefallen. "Unser Haus" nannten es damals die Freunde, wie Nicolai berichtet. Denn nacheinander hatten Lessing, Ramler, Nicolai, Mendelssohn dort gewohnt.

Es ist das Haus, das heute die Nummer 33 trägt (früher Nr. 68). Hier im Herzen des alten Berlin scheint sich damals eine ganze Kolonie von Dichtern, Schriftstellern, Literaten - kurz "Luftmenschen" - niedergelassen zu haben. "Schwabing im alten Berlin", wie man es kürzlich nannte. Ganz nahe lag Vossens Buchhandlung im Viebahnschen Hause in der Königstraße, die 1753 ins Gewölbe unter dem Rathaus übersiedelte - der Ort, wo der Büchermensch täglich ein paar Stunden verbrachte, um das Neueste aus dem Reiche der Gelehrsamkeit kennenzulernen; und von wo Mendelssohn, dem tagsüber nicht so gut wurde, sich frühmorgens rasch Kleists eben erschienene Gedichte holen ließ, um Nicolai damit eine Freude zu machen. "Eine ganze Straße voll Freunde" nennt Ramler in dieser Zeit eine dieser Straßen einmal.

Bald zerstiebt der freundliche Kreis. Lessing, der unermüdliche Anreger und Erwecker, verläßt nach seiner Art 1755 ziemlich plötzlich Berlin, um nach Leipzig zu gehen. Nun wird das menschenreiche Berlin allgemach für Mendelssohn "die große, musenlose Stadt", die "Einöde", wo er wie in einer Einsiedelei lebt.

Einzig mit Nicolai will er noch umgehen, weil ihm in seinen Gesprächen ein Abglanz der Lessingschen Morgengespräche zu leben scheint. Diesen guten Freund und freundwilligen Verleger besucht er manchmal in seinem Garten. Damit lernen wir nun ein anderes Bild von altberliner Geselligkeit oder geselliger Einsamkeit kennen, das allmählich im Briefwechsel Lessings und Mendelssohns immer deutlicher hervortritt - die Gartenfreuden. Der Berliner liebte ja schon damals, wie Rahel Levin [Varnhagen] es später als wichtigste ihrer Eigentümlichkeiten bezeichnet, "das Grüne".

Aber man reiste noch nicht, um die Schönheit der Welt zu genießen; da mußte schon irgendwo ein heilkräftiger Brunnen winken, den man unter philosophischen Gesprächen schlürfte - wie es etwa Mendelssohn in Pyrmont in Gesellschaft des Grafen von Schaumburg-Lippe und seiner holden Gemahlin tat. Dafür tat man daheim etwas anderes in dem löblichen Bestreben, die Natur in den Alltag der Großstadt aufzunehmen: man mietete einen Garten. Beileibe nicht nur, um dort ungestört Vogellieder zu hören und Blumenduft zu riechen. Nein: dieses menschenfrohe Geschlecht will auch dort unter grünen Bäumen mit guten Freunden erbauliche und belehrende Gespräche führen.

So schildert Mendelssohn seine Stunden in Nicolais Garten: "Ich besuche Herrn Nicolai sehr oft in seinem Garten ... Wir lesen Gedichte; Herr Nicolai liest mir seine eigenen Ausarbeitungen vor; ich sitze auf meinem kritischen Richterstuhl, bewundere, lache, billige, tadle, bis der Abend hereinbricht. Dann denken wir noch einmal an Sie, und gehen, mit unsrer heutigen Verrichtung zufrieden, auseinander ..."

Im Hintergrunde dieser intimen Zusammenkünfte von zweien oder dreien steht aber allgemach die gebildete Geselligkeit des erwachenden Berlin. Schon 1755 hat Müchler eine gelehrte Gesellschaft von etwa 100 Personen in dem berühmten "Gelehrten Kaffeehause" vereinigt. Man hat im Englischen Hause, wie der Gründer selbst in einem Briefe an Breitenbauch erzählt, zwei Zimmer gemietet, wo auch ein Billard steht, das die Gesellschaft auf ihre Kosten hat machen lassen - und das nun wieder bestimmt ist, einen Teil der Geselligkeitskosten zu tragen. Dort kommt man alle Tage hin, bekommt Kaffee und alles, was man haben will, für billigen Preis und findet immer angenehme Gesellschaft.

Dort erklärt der Mathematiker Euler, Sohn eines berühmten Vaters, am Billard selbst, um das sich alle scharen, die Gesetze der Mathematik; dort bringt aber auch Mendelssohn seine Abhandlung über die Wahrscheinlichkeit zu Gehör. Gebildete Militärs wie der Leutnant Jacobi und der Oberst Möller, Theologen wie der spätere Feldprediger Lüdke, Naturwissenschaftler wie Aepenius, gehören zu den Mitgliedern.

Mitten hinein in diese schönwissenschaftliche Geselligkeit stößt der Siebenjährige Krieg. Alles strebt auseinander. "Wir leben in einer düsteren, schwermütigen Zeit ..." schreibt Mendelssohn an Abbt. "Zu Wasser und zu Lande, vom Aufgange bis zum Niedergange ist ein Menschenwürgen; Könige gehen zu Fuße, Geldwechsler fahren mit Sechsen. Dichter belagern Festungen, und Weltweise heiraten." - Der Dichter, der Festungen belagert, ist Lessing, der Sekretär des Generals Tauentzien; der Weltweise aber, der im Verfolg aller dieser trüben Weltwirren heiratet, ist niemand andres als Mendelssohn selbst. Rasch blitzt ein Bildchen wie aus "Hermann und Dorothea" auf; wie dort die Eltern nach dem Brande, nach dem Verlust alles Eigentums, ihren Lebensbund schließen, so wählt Moses Mendelssohn gerade diese bedrohte und angstvolle Zeit, um aus dem "friedsamen Hamburg" seine Mamsell Braut, die "zärtlichste Gugenheim", wie seine Brautstands-Briefe sie in etwas steifer Rokoko-Galanterie nennen, nach dem ringsum von Feinden umgebenen Berlin zu führen.

Vorher aber war eine für die Gründung eines jüdischen Hausstandes im Berlin des 18. Jahrhunderts unerläßliche Bedingung zu erfüllen. Am 26. März 1762 konnte Mendelssohn seiner Braut nach langem Hin und Her endlich melden: "Gestern ist unser Niederlassungsrecht mit Gottes Hilfe akkordiert worden. Nunmehr sind Sie so gut wie Herr Moses Wessely ein preußischer Untertan und müssen die preußische Partei ergreifen. Sie werden also auf gut preußisch alles glauben, was zu unserem Vorteil ist. Die Russen, die Türken, die Amerikaner stehen uns alle zu Dienst und warten nur auf unsern Wink. Unsre Münze wird noch besser als Banko, die ganze Welt wird Sicherheit in Berlin suchen, und unsre Börse wird berühmt sein vom Schloßplatz bis an unser Haus. Dieses alles müssen Sie glauben, denn - Sie haben Niederlassungsrecht in Berlin."

Aus der überströmenden Heiterkeit des Freiers Mendelssohn sieht man schon, von welcher Bedeutung dieser nach langem Mühen endlich geglückte Schritt auf seinem Wege zur Einbürgerung Berlins ist. Damit beginnt eine neue Epoche auch in Mendelssohns Stellung zu den Menschen im alten Berlin. War der zugewanderte Fremdling bis jetzt Gast gewesen, wohin er auch kam - wenn auch gelehrter und bald gefeierter Gast - so erscheint jetzt der Hausherr Mendelssohn in anderem Lichte.

Bald fängt das Haus in der Spandauer Straße an, eine bestimmte und wichtige Rolle in der Berliner Geselligkeit zu spielen. Fast erscheint es wie ein Vorläufer jener "Republik des Geistes", wie sie sich ein paar Jahrzehnte später auf demselben Berliner Boden in den bescheidenen Räumen der Mauerstraße gegenüber der Seehandlung bei der jungen Rahel Levin zusammenfand; eine Freistätte, wo Christen und Juden, Offiziere und Beamte, Schriftsteller und Kaufleute sich vereinigten; und wo "ein jeder nicht mehr und nicht weniger Wert hatte, als er selbst durch seine gebildete Persönlichkeit geltend zu machen vermochte".

Zugleich aber darf man bei der bescheidenen Geselligkeit im Hause des Philosophen vorahnend auch schon an die kunstverschönte Geselligkeit im Hause des Sohnes Abraham Mendelssohn am Potsdamer Platz denken. Gewiß, hier mußte die sparsame Frau Fromet, wie ihr Nachkomme erzählt, sorglich die Rosinen und Mandeln in die Glasschälchen zählen, auf daß nicht zu viel verbraucht würde - auch darin übrigens sich der sparsamen Berliner Gastfreundschaft anschließend.

Aber sowohl Henriette Herz, deren Gatte Marcus Herz Mendelssohns Arzt und Freund war, wie die helläugige Rahel Levin [Varnhagen], die mit Mendelssohns Tochter Brendel, der späteren Dorothea, befreundet war, ja selbst die gern etwas flunkernde Sara Meyer, später Baronin Grotthus, die aus bestimmten Gründen nicht gut auf Mendelssohn zu sprechen war: sie alle wissen nicht genug von der Anziehungskraft der Stunden in Mendelssohns Hause zu erzählen. Besonders hat uns David Friedländer, Schüler und Verehrer Mendelssohns, in seinen "Unterhaltungen mit Moses Mendelssohn" das Bild solcher Stunden aufbewahrt: wie in einem Kreise von eifrig disputierenden und scharf sich befehdenden jungen Leute der Hausherr selbst still und mit niedergeschlagenen Augen am Fenster in seinem Armsessel sitzt - und dennoch durch ein rasches Aufblicken, einen plötzlichen Zuruf, ein unvermutetes Eingreifen das Gespräch lenkt und belebt. "Sokratische Denkwürdigkeiten" nannten die Zeitgenossen diese Gespräche im Hause Moses Mendelssohns.

Zuhörer dieser denkwürdigen Gespräche waren neben Schülern und Freunden des Philosophen, zu denen in seinen letzten Jahren neben anderen auch die Brüder Humboldt gehörten, mit wenigen Ausnahmen alle Fremden von Distinktion, die in jenen Jahren Berlin besuchten. Oft kamen sie schon zu dem Zwecke und in der Absicht, den jüdischen Sokrates kennenzulernen. So etwa die schöne und geistreiche Elisa von der Recke, die schon im fernen Kurland durch die Beschäftigung mit Mendelssohns "Phädon" den Unwillen ihrer hochadligen Verwandtschaft erregt hatte. Ihrer Begleiterin, der Pfarrerstochter Sophie Becker, verdanken wir die lebendigsten Schilderungen solcher Gespräche aus Mendelssohns letztem Lebensjahre.

Da zeigt ein Tag im Schloß Friedrichsfelde bei Berlin, das Elisens Schwester, der Herzogin von Kurland, gehörte, den "Philosophen im Judenbart" in schäferlich-galanten Rokoko-Unterhaltungen über die Idyllen des Schweizers Gesner. Nachmittags aber liest Ramler aus "Nathan der Weise" vor, und Mendelssohn sitzt mit verschlossenem Munde da, und seine Seele scheint sich bloß in die Augen zurückgezogen zu haben. Ach, was mußte er auch bald empfinden, da Lessing ihm so ganz Freund im Leben gewesen war. Indessen würde Lessing den Charakter des Nathan minder schön gezeichnet haben, wenn er nicht in seinem Freunde Mendelssohn das Urbild dazu gekannt hätte.

Wenige Wochen später schickt die Herzogin Dorothea früh morgens ein Billet an Sophie Becker, dessen erste Zeilen ihr Herz erstarren lassen: "Unser großer, weiser Mendelssohn ist diesen Morgen entschlafen." - "Da saßen wir und verstummten, keiner konnte sprechen ..." schreibt Sophie Becker in ihrem Tagebuch. "Welche unersetzliche Lücke hat Berlin, hat die ganze Welt erhalten!"

War schon in dem vorstehenden, aus der "Vossischen Zeitung" zitierten Aufsatz von gebildeten Offizieren kurz die Rede, die an Zusammenkünften mit Mendelssohn interessiert teilnahmen, so ging Bertha Badt-Strauss im "Berliner Tageblatt" vom gleichen 6. September 1929 auf diesen besonderen Gesichtspunkt etwas näher ein ("Der Philosoph beim Offizierskorps - Mendelssohn und die Grenadiere von Treuenbrietzen").

Hier schreibt sie:
"Sieht man aber näher hinein in die Zeit, so ist der Gegensatz zwischen friderizianischem Militär und Mendelssohnscher Philosophie bei weitem nicht so groß, als man glauben sollte. Der Philosoph auf dem Throne scheint Philosophen in der Kaserne erzeugt zu haben. Und es ist sonderbar, zu sehen, wie viele Offiziere, Obersten, Leutnants und Grenadiere gerade der "Jude von Berlin", wie ihn die Zeit nannte, zu seinen philosophischen Schülern zählte.

Durch Nicolai wußten wir schon von den soldatischen Mitgliedern des "Gelehrten Kaffeehauses", die Mendelssohns Abhandlung "Ueber die Wahrscheinlichkeit" mit anhörten: dem Obersten Möller, der nachher durch die Schlacht bei Roßbach berühmt wurde, und dem Leutnant Jacobi, einem "trefflichen Kopf und vorzüglichen Mathematiker", der bei Olmütz erschossen wurde. Weniger bekannt aber ist vielleicht, daß es in Preußen ein Grenadier-Bataillon gab, dessen Offiziere geradezu eine kleine Kolonie von Verehrern und philosophischen Schülern Moses Mendelssohns darstellten. Das vollzog sich unmittelbar vor den Toren Berlins - in Treuenbrietzen.

Der tapfere Oberst Joh. Andreas von Scholten, der in Treuenbrietzen kommandierte, ist auch sonst nicht unbekannt. Aus Hamburg gebürtig, zeichnete er sich in Friedrichs [II.] Feldzügen vielfach aus, wurde bei Prag und Zorndorf verwundet und kam 1778 als Chef des Grenadier-Bataillons nach Treuenbrietzen. Dort lernt man den eigentümlichen Mann von ganz anderer Seite kennen: er gründet nicht nur eine Soldaten-Kinderschule, sondern auch eine "Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften und des guten Geschmacks".

Alle Monate einmal versammelt sich diese Gesellschaft auf dem Rathause "bey der Gegenwart sämtlicher Herren Offiziere und ihrer Damen wie auch distinguierter Personen beyderley Geschlechtes"; jedesmal halten zwei Mitglieder eine Vorlesung "militärischen, moralischen, historischen und ökonomischen Inhalts"; es ist einigermaßen erfrischend zu hören, daß diese Vorlesung dann mit einem "sehr wohlbesetzten Konzerte und gesellschaftlichen Tanze" abschließt.

Der Oberst selbst, der Vorsteher der Gesellschaft, scheint etwa um diese Zeit mit Mendelssohn und seiner Philosophie näher bekannt geworden zu sein. Wir hören, daß er, wie alle Fremden von Distinktion, den jüdischen Sokrates in seinem bescheidenen Studierzimmer in der Spandauer Straße besuchte; ja, wohl öfter besuchte: denn wie er schreibt, waren ihm alle Gegenstände eben dieses Studierzimmers so vertraut und ehrwürdig, daß er später Marcus Herz' Beschreibung der Todesstunde Mendelssohns, die in eben diesem Zimmer spielte, vor innerer Bewegung nicht lesen konnte, "da mir die ganze Einrichtung des Zimmers unseres verblaßten Freundes bekannt war; so sah, so hörte ich auch die kleinsten bei seinem Tode vorgefallenen Umstände", schreibt er selbst darüber.

Scholten hatte dem Philosophen seine "Rede bei Eröffnung der Gesellschaft in Treuenbrietzen" geschickt; in einem sehr merkwürdigen Briefe an den Obersten dankt ihm Mendelssohn dafür (am 18. März 1782). Gerade weil diese philosophische Darlegung von einem philosophischen Laien kommt, gerade weil in ihr ein Mann der Tat und nicht ein Mann des Wortes spricht, hat sie seine Teilnahme gewonnen. Ja, sie regt in ihm den alten Plan einer utopischen Republik wieder auf: "wo nur derjenige die Erlaubnis haben soll, in seinem Alter Tugend und Weisheit zu lehren, welcher seine Jugend der Theorie und seine männlichen Jahre der Ausübung derselben gewidmet hat. Wer seine Zeit und seine besten Kräfte dem Staate aufgeopfert hat, der trete auf und rede von Liebe des Nächsten!"

Man sieht: da ist die Brücke, die Mendelssohn, den Mann der praktisch wirkenden Philosophie, die den Menschen nicht nur besser, sondern auch glücklicher machen soll, mit Scholten, dem Manne des tätigen Lebens, verbindet. Von hier aus wird klar, was man oft übersah: warum bei dem Juden aus Dessau so viele Menschen praktischen Wirkens - Landwirte, Staatsbeamte, Militärs, selbst Oberförster - Rat und Verstehen suchten ...

Von den Briefen Mendelssohns an Scholten, die der Oberst nach dem frühen Tode Mendelssohns an David Friedländer sandte, ist uns, wie es scheint, nur einer erhalten; eben jener vom 18. März 1782 datierte, den wir oben anführten. Aber etwas anderes ist uns zum Glück erhalten: ein Brief, den Scholten nach Mendelssohns Tode an David Friedländer schrieb; schönstes Denkmal einer philosophischen Freundschaft zweier nach Geburt und Lebensstil von Grund aus verschiedener Menschen. Zugleich auch wichtig als Beispiel wahrer Vorurteilslosigkeit, wie sie damals (dessen ist sich Scholten wohl bewußt) selbst unter den Gelehrten vom Range eines Michaelis nicht eben häufig war. "Die aufgeklärte Nachwelt, das einzige Tribunal, wo große Männer gerecht gerichtet werden, wird daraus lernen, daß in diesem Jahrhundert wenigstens einige gelebt haben, die sich aus dem Joch der National- oder Sektenvorurteile loszuwinden, und in wahrem Geist eines Weltbürgers, jedem erhabenen Verdienste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Mut genug besessen haben."

Hinter ihrem Obersten erscheinen - ob von ihm philosophisch beeinflußt oder wegen ihrer schon vorhandenen Neigung zur Weltweisheit herangezogen? - zwei Leutnants: von Bose und von Eberstein. Beide standen mit Mendelssohn im Briefwechsel. Aber ihr Hauptverdienst ist es, daß Mendelssohn einem Mann zugeführt wird, der unter den seltsamen Beichtkindern des jüdischen Sokrates gewißlich eins der seltsamsten ist.

Das war der Benediktinermönch Frater Maurus Winkopp. Durch Mendelssohns "Phädon" war der junge Geistliche, wie er selbst erzählt, "in ein Meer von Zweifeln" gestürzt worden; die beiden Offiziere rieten ihm, sich in diesen Nöten an den Erreger selbst zu wenden, und von Bose vermittelte seinen ersten Brief an Mendelssohn. Nach diesem ersten Schreiben entstand nun zwischen dem Philosophen und dem Mönch ein mündlicher und schriftlicher Gedankenaustausch, dem Winkopp später seine eigentliche seelische Errettung zuschreibt. Leider ist von den Zeugnissen dieser Schülerschaft nicht allzu viel erhalten; ganz besonders ist uns Winkopp die immer wieder versprochenen Gespräche mit Mendelssohn schuldig geblieben, die er sich damals nach eigener Aussage sogleich aufzeichnete, und in denen über die letzten Fragen des Lebens verhandelt wurde.

Seltsam berührt es, daß auch Winkopps "zweites Leben" mit Treuenbrietzen, der militärischen Kolonie der Mendelssohn-Verehrer, verknüpft zu sein scheint. Das Vorwort zu seiner Schrift "Leben, Schicksale und Verfolgungen des Priors Hartungus, oder geheime Philosophie und Charakteristik des Mönchwesens" (Leipzig 1782) ist aus Treuenbrietzen datiert. Peter Adolf Winkopp, wie er später heißt, ist nach seiner zweimaligen Flucht aus dem Kloster (mit der Mendelssohn übrigens, wie Winkopp bemerkt, nichts zu tun hatte) ein viel umgetriebener Mann geworden; er lebte als Buchhändler in Mainz, später als Hof-Kammerrat in Erfurt und Aschaffenburg und schrieb zahlreiche Bücher statistischen oder historisch-politischen Inhalts. Aber Mendelssohns Einfluß auf die entscheidende Wendung seines Lebens hat er, wie ein Abriß seiner Autobiographie zeigt, niemals vergessen."

Aus: "Mitteilungen" 04/1979. Redaktion: Gerhild H. M. Komander 11/2003