Mendelssohn und Lessing
Eine Freundschaft im Spannungsfeld der Epoche
Von Ingrid Strohschneider-Kohrs
Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das ‚philosophische‘ genannt worden, es ist auch eine Zeit der geistig-literarischen Freundschaften von besonderem Rang. Die Freundschaft, die Mendelssohn und Lessing verbunden hat, stand – verglichen mit einigen anderen – unter recht ungewöhnlichen Bedingungen; für sie hat es mehr als ein besonderes Vorzeichen gegeben. So waren die Herkunft und das kulturelle Umfeld bereits überaus gegensätzlich; und die ersten Begegnungen sind alles andere als selbstverständlich zu nennen. Wohl kommt auch dies hinzu, dass die in den Jahrzehnten der Empfindsamkeit weithin übliche Dominanz des Emotionalen und der Gefühlssprache ihrer beider Sache nicht war.
Die Freundschaftsverbindung zwischen Mendelssohn, dem Sohn eines Tora-Schreibers aus der Dessauer Sandvorstadt, der mit dem Jiddischen und ebenso auch der hebräischen Hochsprache aufgewachsen war, und Lessing, dem Kamenzer Pastorensohn, der zu Meißen in der Fürstenschule St. Afra erzogen wurde und mit der sächsischen Geselligkeitskultur vertraut war, -: diese Freundschaft hat gleichwohl ihrer beider gesamte Lebenszeit begleitet und hat die geistige Intensität ungeschmälert bewahrt. Und dies, obwohl es mehr als eine Phase der räumlichen Entfernung und mehr als eine schwerwiegende lebengeschichtliche Belastung für jeden von ihnen gegeben hat. Es darf sicherlich ein besonderes Kennzeichen dieser Freundschaft genannt werden, dass gerade in Krisen- und Konfliktzeiten, die durch äußere Anfeindungen ausgelöst waren, die freundschaftliche Verbundenheit von besonderer Intensität gewesen ist. Darin zeichnet sich ein Grad geistiger Verständigung ab, der sowohl auf gravierenden zeitgeschichtlichen Erfahrungen basierte und doch zugleich als ein Ausdruck sehr persönlicher Entschiedenheit und zeitübergreifender Vernunftorientierung zu erkennen ist.
Dass es ebenfalls Phasen und hervorragende Gemeinsamkeiten in reicher literarischer Tätigkeit gegeben hat – so beispielsweise die 1754 gemeinsam verfasste Pope-Schrift oder die weithin beachteten und hochwirksamen Literaturbriefe seit 1759 – soll hier unerwähnt bleiben, zumal dafür eine gesonderte und ausführliche Darlegung nötig wäre. Für die Phasen krisenhafter Problemerfahrungen ist mit genauerer Datierung mehr als eine Situation zu nennen. Es sind solche Situationen, in denen Mendelssohn und Lessing zu bestimmten Stellungnahmen öffentlich herausgefordert worden sind. Ich skizziere hier in der gebotenen Kürze drei dieser Konstellationen, die den Lessing-Mendelssohn-Dialog im Spannungsfeld der Epoche auf exzeptionelle Weise zu zeigen vermögen. Die Daten sind: 1754 – 1770 – 1779/85. Wichtiger, prägnanter als die Daten sind die Namen der jeweiligen Kontrahenten, mit denen Mendelssohn und Lessing zu tun hatten, – Kontrahenten jeweils aus den theologisch-philosophischen Gebieten: Johann David Michaelis – Johann Caspar Lavater – Friedrich Heinrich Jacobi.
Die erste dieser Situationen ist ausgelöst worden durch die Reaktionen, die Lessings frühes Lustspiel „Die Juden“ in Beurteilungen und Thesen und deren Beantwortung gefunden hat. Dies Lustspiel ist als eines der frühen Jugend-Dramen schon 1749 entstanden, – also in einer Zeit, in der Lessing Mendelssohn noch keineswegs kannte. 1754 ist das Stück im 4. Teil der Lessingischen frühen Schriften gedruckt erschienen. In seiner Vorrede zu dieser Ausgabe betont Lessing, dies Stück sei das „Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muss, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann.“ Die Tatsache jedoch, dass in diesem Stück ein reicher, gebildeter und edelmütig handelnder Jude auftritt, ist für den hochangesehenen Göttinger Professor für alttestamentliche Theologie: Johann David Michaelis, Anlass zu massiver Kritik und Aburteilung gewesen. Es sei zu bezweifeln, so Michaelis, dass es solche Juden von Tugend und Edelmut gebe; es spräche gegen jede ‚Wahrscheinlichkeit‘, da bei diesem Volke von so niedriger Lebensart eine „allgemeine Redlichkeit kaum möglich“ sei. Anläßlich dieser in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen publizierten Rezension hat Mendelssohn in einem privaten Brief an den ihm befreundeten Arzt Gumpertz sich geäußert. Wichtige und ausführliche Passagen aus diesem Brief sind von Lessing – jetzt: 1754, mit Mendelssohn in freundschaftlichem Austausch – in seiner ‚Theatralischen Bibliothek‘ in einem Aufsatz „über das Lustspiel ‚Die Juden‘“ veröffentlicht worden, ohne den Namen des Briefschreibers zu nennen. Den bitteren Briefworten Mendelssohns über die „grausame Seelenverdammung aus der Feder eines Theologen“, der einer „ganzen Nation“ die Tugend abspreche, die der „einzige Trost bedrängter Seelen“ und die „einzige Zuflucht der Verlassenen“ sei, fügt Lessing eine eigene überaus deutliche Würdigung des – wie er schreibt – wirklich existierenden Juden hinzu: eines Menschen von hoher Bildung, Redlichkeit und vielfältiger Sprachenkenntnis, der nicht nur seiner Nation zur Ehre gereiche, sondern nachgerade von vorbildhafter Geistesbegabung und Moralität sei.
Worte wie diese, noch dazu publice gesprochen, sind in dieser Zeit, in der die von etlichen Vorurteilen geprägte Missachtung oder auch offenkundige Unterdrückung der Juden als communis opinio weit verbreitet war, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie sind nicht nur ein außerordentliches Freundesbekenntnis – und sind nicht nur im engeren Literatenkreis hörbar gewesen; sie haben als das Zeugnis einer freimütigen Gesinnung und als ein moralisches Monitum zu gelten, das in dieser Phase der mählich erstarkenden, bürgerlichen Aufklärungsmentalität von nicht geringer Wirkung gewesen sein mögen. Die vorbehaltlose und dezidierte Art, mit der Lessing die Situation des Freundes wahrnimmt und Mendelssohns geistige Kultur und Exzeptionalität in unmissverständlichen Hinweisen und originären Zitaten aus dem Freundesbrief zur Sprache bringt, läßt sich als eine der Grundlinien bezeichnen, die in mehr als einer Konstellation und Erfahrung der späteren Lebenszeit sich wiederholt.
Anders als in der frühen Phase, in der Lessing und Mendelssohn einander in regem Austausch und literarischer Produktivität vielfach begegnet sind, stehen die Jahre seit 1770 unter veränderten Vorzeichen. In dieser Zeit hat es Anlass gegeben zu nicht wenig harten Auseinandersetzungen infolge öffentlicher Provokationen, in denen Mendelssohn und – wenn auch auf andere Weise – ebenfalls Lessing aufgrund ihrer religiösen und philosophischen Position und Überzeugungen keineswegs geschont worden sind.
Mit dem Jahr 1770 hat für beide eine neue Lebensepoche begonnen: für Lessing mit der Übersiedlung nach Wolfenbüttel und den Aufgaben in der berühmten Bibliothek. Mendelssohn wird in eben dieser Zeit in einer ihn hart bedrängenden Situation durch eine rücksichtslose Herausforderung Johann Caspar Lavaters belastet und gefährdet. Lavater, Diakon in Zürich, hat ihn schon im August 1769 in einem öffentlichen Schreiben zu einem Bekenntnis herauszufordern gewagt, das Mendelssohn als prekäre Zumutung empfinden musste. Lavater verlangt von Mendelssohn, er sollte die in dem Buch von Charles Bonnet ‚Palingénésie philosophique‘ dargelegten ‚Beweise für das Christenthum‘ entweder widerlegen oder aber, wenn er sie für ‚richtig‘ halte, sich zum Christentum bekehren.
Die Antwort Mendelssohns, des in dieser Zeit weithin bekannten und verehrten ‚Juif à Berlin‘ ist so höflich wie eindeutig: er sei seiner mosaischen Religion so „unwiderleglich versichert“ wie Lavater der seinen. Er weist zudem darauf hin, dass es ‚heilige Wahrheiten‘ und deren reale ‚Ausübung‘ gebe, die die „besten Christen und die besten Juden gemein haben“. – Aus dem August 1770 gibt es eine an einen anonymen Briefpartner gerichtete Äußerung Mendelssohns, in der er für eine solche mögliche und wünschbare Einigkeit das hochbedeutsame Wort von einer ‚unsichtbaren Kirche‘ verwendet und in diesem Zusammenhang vor allem die moralische Praxis und ‚Sittenlehre‘ als das vornehmlich Verbindende betont.
In der von Lavater heraufbeschworenen Situation, in der Mendelssohn öffentlich zu explizitem Religionsbekenntnis gedrängt wurde, konnte und durfte es kaum Lessings Sache sein, sich dazu publice zu äußern. Doch er hat es an Zustimmung und Zuspruch für den Freund nicht fehlen lassen. Hier sei nur eines der Lessingischen Briefzeugnisse erwähnt: nur er, Mendelssohn, so schreibt Lessing im Januar 1771, könne auf Lavater und Bonnet so antworten, wie es andere nicht vermöchten; damit sind die Berliner Neologen mit ihrem ‚biblischen Rationalismus‘ gemeint. – Dieser Brief gehört in die Zeit, in der Mendelssohn kurz zuvor Lessing einen Besuch in Wolfenbüttel und der Herzoglichen Bibliothek abgestattet hat. Es ist eben diese Zeit, in der Lessing den Freund mit den unveröffentlichten Reimarus-Schriften, die ihm in Hamburg anvertraut worden waren, bekannt gemacht hat. Gegen deren Veröffentlichung hat Mendelssohn allerdings Bedenken geäußert, – so wie er später diese ‚Streitsache‘ um die Fragmente des ‚Ungenannten‘ : er nennt sie sogar ‚Lessings Zänkereien‘, nicht zu billigen vermocht hat. Es hat stets, auch das gilt es anzumerken, an klarer Kritik in diesem Freundesdisput nicht gemangelt.
In den essentiellen, entscheidenden Auffassungen und Überzeugungen indes, in den großen allgemeineren Grundfragen ihrer je eigenen Religion zeigen ihre Schriften durchaus Vegleichbares oder Übereinstimmungen. Das betrifft mehrere der in dieser Epoche viel oder auch hart umstrittenen Probleme: So – die Einsicht in die Historizität der jeweiligen Religionsüberlieferung; so ebenfalls in der differenzierenden Unterscheidung und genaueren Bestimmung der Relation von Offenbarung und Vernunft. Und das meint: es gilt für sie beide keineswegs die ausschließliche Dominanz der ratio – oder, dies Wort verwendet Mendelssohn später in seiner ‚Jerusalem‘-Schrift: die „Anmaßung“ der Vernunft über die Offenbarungs- oder Gesetzes-Religion, wie zuweilen vermutet oder unterstellt worden ist. Der Begriff der ‚Vernunftreligion‘, der gemeinhin die dezidiert einseitigen rationalistischen Neologen kennzeichnet, ist für die sehr viel differenzierteren Positionen Mendelssohns und vor allem Lessings unzureichend und auch irreführend. Für sie beide muss mit sehr viel genaueren Erläuterungen gesprochen werden.
Um Grade deutlicher als in diesem Problembereich: den in dieser Epoche vehement diskutierten theoretischen und spekulativen Fragen, erscheint die Übereinstimmung auf dem Gebiet der moralischen Praxis; für Fragen der religiös begründeten Sittlichkeit. Wenn das aus Mendelssohns Brief bereits erwähnte Wort von der in der Sittlichkeit sich bewährenden Einigkeit von Juden und Christen: das Wort von der ‚unsichtbaren Kirche‘, auch in Lessings Schrift der Freimaurer-Gespräche ‚Ernst und Falk‘ in aller Deutlichkeit hervorgehoben wird – in eben der Spätschrift, an deren Entstehung und deren sittlichen Postulaten Mendelssohn lebhaftes Interesse gezeigt hat, – so lässt sich für dieses Problem der Moralität eines der ebenso schlichten wie eindrucksvollen Dialog-Zitate aus Lessings Nathan-Drama anführen. Es ist das Wort, mit dem zunächst der christliche Klosterbruder über Nathans selbstlose Tat der Rettung des verwaisten Christenkindes zu urteilen sucht (in Scene IV,7):
„Nathan ! Ihr seid ein Christ ! – Bei Gott, Ihr seid ein Christ ! Ein beßrer Christ war nie !“
So ist Nathans Antwort darauf von nachgerade singulärer Bedeutung:
„Wohl uns ! Denn was Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir Zum Juden !“
Aufgrund ihrer Einsichten und ihrer jeweiligen religionsphilosophischen Problemorientierungen sind sie beide, Lessing wie Mendelssohn, keiner der definitiv festgelegten Positionen ihrer Zeit zuzurechnen. Ihre Bemühungen gelten der Lauterkeit der Religions- Aussagen und deren möglichen Begründungen. Und es gehört sehr wohl das dazu, was Mendelssohn anläßlich seiner Psalmenübersetzung als den „klaren Sinn der Schrift“ bezeichnet hat und was zu den Versuchen gehört, deren Verständnis von Vorurteilen zu befreien. Es ist offenkundig, dass sie – jeder auf die ihm eigene Weise – ihren jeweils eigenen Ort zwischen den vorhandenen großen Gegensatzpositionen der Epoche innehatten. So wie Lessing sich einerseits gegen die – so von ihm benannten – ‚Orthodoxisten‘ abgegrenzt und anderseits auch mit Deutlichkeit gegen die ‚Neologen‘ ausgesprochen hat, – so hat es für Mendelssohn eine vergleichbare Situation innerhalb des Judentums gegeben. – In der bildlichen Sprache seines Nathan-Dramas hat Lessing diese Situation des Freundes mit treffsicheren Hinweisen anzugeben gewusst. Er läßt Nathan auf die ihm vom Sultan gestellte Frage nach der ‚Wahrheit‘ seiner Religion in einer eindrucksvollen Monologrede (in Scene III,6) mitteilen: Weder als ein „Stockjude“ könne er sich verstehen und ausgeben, noch auch als jemand, der „ganz und gar nicht Jude“ sei. –
So sicher und zugleich bei aller Offenheit zutreffend diese Aussage in der poetischen Dramensprache die geschichtliche Situation Mendelssohns kennzeichnet, so sollte doch nicht – wie es oft genug geschieht – die Nathan-Figur als realistisches Abbild des Freundes verstanden werden; nicht jedenfalls in einer allzu einfachen Weise imitierender Gleichsetzung. Denn Lessing und Mendelssohn haben stets in aller Deutlichkeit von der eigengesetzlichen Sphäre literarischer Kunst gesprochen und auf die nicht zu ignorierenden Grenzen zwischen Kunst und Leben hingewiesen. Gleichwohl ist davon zu sprechen möglich, dass – bei dieser mitzudenkenden Differenz – die Geistesart, das moralisch-intelligible Verhalten und die Gemütsart Mendelssohns in der Nathan-Figur wiederzuerkennen sind, wie denn auch sehr wohl Lessings eigene Gedankenwelt und seine Mentalität deutlich genug das Drama bestimmt haben.
Es ist wohlbegründet, dass dieser Dichtung ein so ausgezeichneter und auch historisch bedeutsamer Rang im Freundesgespräch zuzuerkennen ist. Sowohl die Korrespondenz aus der Entstehungszeit des Dramas, wie dann später keineswegs weniger die von Mendelssohn mehrfach, auch öffentlich bekundete Hochachtung und Bewunderung nach dem Erscheinen des Dramas bezeugen die ungewöhnlich intensive Anteilnahmne an des Freundes Vermächtniswerk. An all dem, was Lessing vom August 1778 an in seiner Korrespondenz nach Berlin dem Bruder Karl Gotthelf und dem ‚Herrn Moses‘ berichtet hat über den Plan seines Dramas, über dessen ‚Keim‘ oder das gewichtige gedankliche Motiv aus Boccaccios bekannter Geschichte von dem Juden Melchisedek und seiner Parabel von den drei Ringen, aber auch über Sprache und Stil und (darauf sucht Mendelssohn eigens hinzuweisen:) den notwendig irenischen ‚Ton‘: – an all dem hat Mendelssohn aufmerksam und interessiert aus der Ferne teilgenommen.
Nach Erscheinen des Nathan zur Ostermesse 1779 findet Mendelssohn mehr als einmal Worte höchster Zustimmung: es sei dies ein „Werk des Geistes“, das höher stehe als alles, was Lessing bisher geschrieben habe. Und es sei wohl begreiflich, so betont er, „dass der große Haufe seiner Zeitgenossen das Verdienst dieses Werkes verkenne“. Erst eine „bessere Nachwelt“ und erst nach geraumer Zeit werde man diese Dichtung zu schätzen wissen; denn Lessing sei mit dem Nathan-Drama „mehr als ein Menschenalter seinem Jahrhundert zuvorgeeilt“. Mit Gedanken wie diesen, die er im Februar 1781 nach Lessings Tod dem Bruder Karl Gotthelf schreibt, teilt er eine Auffassung, die Lessing selbst kurz vor Erscheinen des Stücks in einem seiner skeptischen, an den Bruder gerichteten Briefe geäußert hat: „Es kann wohl sein, dass mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird“.
Bevor die Bühne sich des Nathan-Dramas annahm, hat es – wie Gleim aus Halberstadt schon bald nach Erscheinen des Stücks zu berichten wußte – „Urteile der Bosheit und der Dummheit die Menge“ gegeben: Urteile, so ist es vielfach bezeugt, die dem ideellen Gehalt des Stücks galten und es zu verurteilen Grund zu haben glaubten. Urteile, mit denen auch Lessing als Autor scharf angegriffen und verdächtigt wurde.
Es ist Mendelssohn gewesen, der einige Jahre später in einer seiner Spätschriften darauf geantwortet und die Verteidigung des Freundes übernommen hat. In dieser Schrift von 1785 mit dem Titel „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“ heißt es wie folgt: Man verdächtige Lessing, er „habe das Christentum beschimpft, ob er gleich nur einigen Christen und höchstens der Christenheit einige Vorwürfe zu machen gewagt hatte. Im Grunde gereicht sein Nathan, wie wir uns gestehen müssen, der Christenheit zur wahren Ehre. Auf welcher hohen Stufe der Aufklärung und Bildung muss ein Volk stehen, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnungen hinaufschwingen, zu dieser feinen Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge ausbilden konnte! Wenigstens, dünkt mich, wird die Nachwelt so denken müssen; [...]“.
Diese von Mendelssohn mit bewundernswerter Klarheit und Entschiedenheit der Öffentlichkeit dargebotenen Aussagen dürfen als ein überaus bewegendes, als ein ausgezeichnetes, großes Freundesbekenntnis gesehen werden. Die vorbehaltlose Verstehensweise, gedankliche Nähe und Teilhabe, mit der Mendelssohn über das Werk und nicht weniger nachdrücklich über des Freundes Gesinnung spricht, sind von einem nur selten begegnenden, ja: von nachgerade singulärem Rang.
„Morgenstunden“ – das Wort ist nicht ohne einen besonderen freundschaftlichen Sinn, wie Mendelssohn in einem schon 1756 an Lessing gerichteten Brief formuliert hatte: die Morgenstunden seien ihm, Lessing, „gewidmet, weil diese nicht aufhören, mich an Sie zu erinnern.“ – Dem Spätwerk dieses Titels, das – aus Vorlesungen hervorgegangen – eine eigene philosophische Problematik zum Thema hat, fügt Mendelssohn ein gesondertes ausführliches Lessing-Kapitel hinzu. Es ist Teil einer über Jahre sich hinziehenden Auseinandersetzung, die durch Friedrich Heinrich Jacobis Mitteilungen über ein Lessing-Gespräch vom Sommer 1780 ausgelöst und vor allem anläßlich von Jacobis Behauptungen über Lessings ‚Spinozismus‘ für Mendelssohn eine harte Provokation bedeutet hat. Da in dieser Zeit ‚Spinozismus‘ noch weitgehend als ‚Atheismus‘ verstanden oder auch gleichgesetzt wurde, hat Mendelssohn sich durch Jacobis Gesprächsmitteilungen, die weder ganz präzise noch ganz durchschaubar waren, vor allem durch die Lessing speziell betreffenden Aussagen aufs schärfste heausgefordert gesehen, Jacobis Behauptungen zurückzuweisen. Es ging ihm darum, mit aller Klarheit nachzuweisen, dass Jacobi keinen Grund gehabt habe, Lessing „bei der Nachwelt als Spinozisten, Atheisten und Gotteslästerer anzuklagen“.
In dem Lessing-Kapitel, das Mendelssohn der ‚Morgenstunden‘-Schrift eingefügt hat – es ließe sich durchaus als eine ‚Rettung‘ im Lessingischen Sinne nennen – hält Mendelssohn der von Jacobi aufgebotenen Spinozismus-These den für Lessing angemesseneren Begriff eines ‚geläuterten Pantheismus‘ entgegen. In diesem Zusammenhang kritisiert er zudem das, was er nach Jacobis Auslassungen als ein „System des Allein oder Einallerlei“ charakterisiert.
Er betont, dass die Formel ‚hen kai pan‘ besser mit den Worten zu kennzeichnen sei, die eine denknotwendige Differenzierung anzuzeigen vermöchten: ‚Gott und die Welt‘; die ‚Alles ist Eins‘-These könne das entscheidende Problem nicht erfassen. Abgesehen von allen Spekulationen, die in dieser Schrift zu Worte kommen, gibt es in dieser Konfrontation von Mendelssohn und Jacobi auch einen extraordinären persönlichen Affront, auf den Mendelssohn mit begreiflicher Empörung und nicht wenig verletzt reagieren musste. Hatte Jacobi doch mit einigen Hinweisen in seinem Bericht über das mit Lessing geführte Gespräch die Relevanz und das gedankliche Niveau der Verbindung zwischen Lessing und Mendelssohn in Zweifel zu ziehen gewagt. In diesem Bericht suchte Jacobi anzudeuten, dass Mendelssohn wohl nicht zureichend imstande gewesen wäre, Lessings Gedanken, etwa den Problemaussagen in der Erziehungs-Schrift, gerecht zu werden oder sie ohne Missverständnis aufzunehmen. Um einen Grad empörender noch lauten Jacobis Behauptungen über das Vertrauen, das die Freundschaft Lessings mit Mendelssohn bestimmt habe.
In einem an Kant gerichteten Brief hat Mendelssohn davon gesprochen: „Lessing soll ihm [Jacobi] nämlich gesagt haben, dass er mir, seinem vertrautesten, 30jährigen Freunde seine wahren philosophischen Grundsätze nicht entdeckt habe.“ Dies sind in der Tat nicht nur empörende Missdeutungen, sondern offenkundige Gegebenheiten gröblich entstellende Behauptungen. Hat es doch zwischen Mendelssohn und
Lessing seit den 60er Jahren und weit darüber hinaus auch während des nachfolgenden Jahrzehnts – so belegen es etliche Briefzeugnisse und manche der Publikationen – sehr wohl den Austausch über die Spinoza-Studien gegeben, öffentlich bekannte Fragen und Informationen über die Beziehungen Leibnizischer und spinozistischer Probleme und schließlich auch Hinweise auf Kontexte zur älteren Emanationslehre und in diesem Zusammenhang auch auf die ‚Cabbalisten‘, wie Mendelssohn sie nennt. Nicht ohne Grund hat Lessing Worte des Dankens für die „gütige Belehrung“, wie es in einem seiner Briefe vom 1.5.1774 an den Freund einmal heißt, gefunden; und es sind eben die ‚Belehrungen‘ gemeint, die dem in philosophischen und religionsphilosophischen Themen so gründlich vertrauten Mendelssohn geschuldet waren.
Über manche räumliche Entfernung hin und trotz manchen zeitlichen Intervalls hat es in diesem Freundesgespräch eine deutlich wahrnehmbare Kontinuität und den intensiven Interessenaustausch gegeben -, zumal auf dem Gebiet der im 18. Jahrhundert nicht wenig virulenten Probleme auf philosophischem und religionskritischem Gebiet. Eine nochmals eindrucksvolle Bestätigung dafür geben die Worte und Kennzeichnungen, die Mendelssohn in der letzten seiner Spätschriften über Lessings geistige Position mitgeteilt hat – auf wiederum die besonderen Herausforderungen, die von Jacobi ausgegangen waren. So wie Mendelssohn in seinem Brief an Kant vom Oktober 1785 von seiner gerade in philosophischen Fragen sich bewährenden Freundschaft mit dem „vertrautesten, 30jährigen, philosophischen Freunde“ spricht, so hat er nochmals auch in der letzten seiner Schriften: „An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobis Briefwechsel über die Lehre des Spinoza“ sich zu Wort gemeldet.
Diese erst 1786 postum erschienene Schrift dokumentiert erneut Mendelssohns Freundesnähe; sie ist über das persönliche Bekenntnis hinaus nochmals auch eine dezidierte Verteidigung der Lessingischen Position mit nachdrücklicher Zurückweisung aller von Jacobi ausgehenden Invektiven. In unmissverständlicher Deutlichkeit verweist Mendelssohn auf die geistige Orientierung des Freundes im Spannungsfeld der in dieser Epoche vorgegebenen und hochkarätigen Problematik. Lessing, so führt Mendelssohn aus, habe in der näheren Bestimmung der Relation von Vernunft und Religion das ‚lumen divinum‘ weder zu schmälern, noch jemals zu leugnen versucht. Wohl aber, so hebt Mendelssohn mit einer besonders eindrucksvollen Formulierung hervor, gehöre Lessing in den Kreis derer, „die ihrer Vernunft auch etwas zugetraut haben“.
Ein Wort wie dieses läßt wissen, dass es für Lessing nicht weniger als für Mendelssohn bei all ihrem kritischen Bewusstsein und ihren entschiedenen Stellungsnahmen auch in der Kritik anmaßender Zeiterscheinungen stets eine Art von Anerkenntnis und Verteidigung der Vernunft gegeben hat, die mit all ihren hohen Ansprüchen auch die Fähigkeit zu Maß und Selbstbegrenzung zu bewahren gewußt hat – vor allem in Fragen der Metaphysik und der Religionen. – Ein Problembewusstsein wie dieses ist als eine der bestimmenden Signaturen der spätzeitlichen, reifen Aufklärungsepoche zu verstehen. Und eben eine solche Signatur und geistige Orientierung ist es gewesen, die das freundschaftliche Gespräch zwischen Mendelssohn und Lessing begründet und begleitet hat. Es sind die unter solchen Zeichen wahrzunehmenden Erfahrungen und Gedanken, die das Außergewöhnliche und den hohen geschichtlichen Rang dieser Freundschaft bedenken und erinnern lassen.*
* Ergänzend zu der hier in knapper Form skizzierten Thematik seien von meinen ausführlicheren und die Zitate nachweisenden Darlegungen die folgenden genannt:
‚Lessings letzter Brief an Mendelssohn‘. In: Disiecta Membra. Studien. Festschrift für Karlfried Gründer. 1989. S. 223-243.
‚Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing‘. Tübingen 1991.
Aus: "Mitteilungen" 2/2004
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