Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Kulturabend zu Ehren von Paul Celan am 2. November 2020 in Schloss Bellevue
Eine Feier für Paul Celan – wie sollte sie aussehen? Wie viele andere wollten auch wir Paul Celan feiern in diesem Jahr seines hundertsten Geburtstags. Mit Künstlern und Publikum, in einem fröhlichen und feierlichen Rahmen. Und wie viele andere mussten wir die schon für April geplante Veranstaltung coronabedingt absagen. Nun sind wir mit dem Nachholtermin mitten in die zweite Welle der Pandemie geraten. Ab heute müssen Kultureinrichtungen im ganzen Land wieder kreative Lösungen finden, um ihre Musik, ihr Spiel, ihre Kunst zu den Menschen zu bringen. Und das wird immer schwieriger. Ich weiß, viele Einrichtungen stehen nicht nur extrem unter Druck, sie kämpfen ums Überleben. Gerade dann, wenn wir wegen der Pandemie erneut nicht ins Theater, ins Konzert oder in Ausstellungen gehen können, gerade dann müssen wir uns überlegen, wie wir Kulturschaffende auf anderem Weg unterstützen können. Und die Politik muss es auch. Das ist der eine Grund, warum wir uns entschieden haben, diese Veranstaltung nicht noch einmal zu verschieben oder sie gar abzusagen.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund. Denn gerade jetzt brauchen wir Kultur mehr denn je. Zur Ermutigung, zur Stärkung, zum emotionalen Zusammenrücken. Wir brauchen Kultur als Lebenselixier einer Gesellschaft, die gemeinsam durch eine Krise geht. Eine Krise, die uns vielleicht noch eine Zeit lang zur Geduld zwingt, die aber auch irgendwann vorbei sein wird. Kultur braucht einen festen Platz in unserem Leben, gerade jetzt, denn sie macht Mut zur Veränderung, überwindet das triste Heute, deutet an, was möglich ist.
Der heutige Abend wird leider ohne Gäste stattfinden, vor allem ohne unsere Gäste aus Frankreich, ohne Eric Celan, ohne Bertrand Badiou, auch ohne Barbara Wiedemann aus Tübingen, aber mit einem den Umständen angepassten Programm als rein digitale Veranstaltung.
Trotzdem: Heute Abend feiern wir Paul Celan. Wir wollen ihm eine Bühne bereiten. Die eingeladenen Künstler wollen und werden ihn mit ihren Beiträgen ehren. Gelegenheiten wie diese sind selten geworden. Sie werden im November noch seltener werden. Und wir müssen verhindern, dass sie vollends verschwinden. Es wäre ein Unglück für uns alle.
Dichtung und Musik sind Künste, die auf den Vortrag angewiesen sind, die von der Interpretation leben und von ihren Interpreten. Es sind Künste, die nicht umsonst so alt sind wie unsere Kultur. Sie sind überlebenswichtig für uns alle. Deshalb begrüße ich alle Gäste im Livestream umso herzlicher, wo immer sie uns heute Abend zusehen oder zuhören!
Das Wie und Wo hat uns bei der Vorbereitung dieses Abends umgetrieben, mehr noch aber die Frage, wem richten wir dieses Fest eigentlich aus?
Paul Celan – dem „größten französischen Dichter deutscher Sprache“, wie ihn der französische Germanist Claude David nannte; oder dem deutsch dichtenden Exoten, der er auch in Frankreich blieb, wie Durs Grünbein meint; dem großartigen Übersetzer vor allem russischer und französischer Lyrik; oder dem Vertriebenen, dem universellen Migranten, dem Dichter, der immer ein Jude ist, wie die russische Poetin Marina Zwetajewa wusste?
Herausgekommen ist ein Programm, das weniger über ihn als vor allem für ihn sprechen soll. Ich wünschte mir, wir ehrten damit den Dichter, der uns fühlen lehrte in einer fühllosen Zeit. Dessen Sprechen und Verstummen uns daran erinnert, dass Sprache lebendig ist, dass sie kein seelenloses Schlagwortregister ist, dass sie nicht nur benennt, sondern eine Verbindung herstellt zu dem, wovon sie spricht, und zwischen uns, die wir sie sprechen.
Denn dieser Dichter Paul Celan ist nicht nur einer der größten Dichter deutscher Sprache, er ist im Wortsinn bedeutend. Er verlangt auch nach Deutung. Ja, er wird immer bedeutender, je mehr wir verstehen, was er uns über uns sagt.
Dieses Verständnis ist, wie mir scheint, mit dem zeitlichen Abstand der vergangenen fünfzig Jahre gewachsen. Jedes Gedicht Paul Celans ist, wie es sein russischer Gefährte und Dichterfreund Ossip Mandelstam beschreibt, eine Flaschenpost, die sich an einen fernen, unbekannten Adressaten richtet, an dessen Existenz der Dichter nicht zweifeln durfte, ohne an sich selbst zweifeln zu müssen. Der ferne Unbekannte muss dazu kein Zeitgenosse sein, ja in der Regel ist er wohl ein Zukunftsgenosse.
Wenn zum hundertsten Geburtstag eines Dichters ein halbes Dutzend Bücher erscheint, die seiner Person und seinem Werk nachspüren, ist das vielleicht nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist das Phänomen Paul Celan, auf das die Autoren immer wieder und immer neue Antworten suchen. Helmut Böttiger und Marcel Beyer werden später ihre Deutungen im Gespräch miteinander austauschen. Maria Stepanova wird mit einem Impuls aus Moskau vertreten sein. Jens Harzer und Marina Galic werden Ausschnitte aus den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann lesen. Wir werden Musik hören und – natürlich – Gedichte Celans. Sein besonderes Verhältnis zu Friedrich Hölderlin und Nelly Sachs klingt darin mit an.
Wenn ein deutscher Bundespräsident einen Abend zu Ehren Paul Celans ausrichtet, dann sollte er etwas sagen können über das Verhältnis des Landes, für das er spricht, zu dem Dichter, der Paul Celan war. Und er sollte sich nicht scheuen, von Schuld und Scham zu sprechen, die dieses Verhältnis doch in Wahrheit beschwert haben.
Heute scheint uns, als könne niemand, der je ein Gedicht Celans gelesen hat, der um seine Herkunft und seinen Lebensweg wusste, erstaunt darüber sein, dass dieser Dichter ein gebrochenes Verhältnis zu Deutschland, zum Land seiner Muttersprache hatte. Eben weil beide, Mutter und Muttersprache, unter die Deutschen geraten waren, weil beide ihm alles bedeutet und seine Existenz als Dichter begründet hatten, blieb der Verlust der Mutter ein lebenslanger Schmerz. Dass sie in einem deutschen Lager von deutscher Hand durch einen Genickschuss starb, das war nicht zu verwinden. Die Muttersprache war zur Mördersprache geworden, zur Sprache der „Rassejuristen“, „Kulturmenschen“, ja selbst der „Philosophen“ – toxisch, wie das Verhältnis Celans zu Deutschland: ein Missverhältnis.
Zwischen Czernowitz, seiner Geburtsstadt, und Paris, seinem Lebensort für lange Jahre, lag dieses Land, das er oft besuchte, in dem er Freunde hatte, das aber kein Ort war, zu leben und zu schreiben. Und doch war dieses Deutschland ein Resonanzraum. Hier erschienen seine Gedichte, wurden gelesen, besprochen, mit Unverständnis und Befremden bedacht, aber eben auch mit großer Anerkennung.
Doch das Befremden, auf das Celan bei seinen Zeitgenossen stieß, vor allem bei den einflussreichen Literaturkritikern der frühen 1950er Jahre, aber auch bei den Dichtern und Schriftstellern der Gruppe 47, die doch die Aufarbeitung des Dritten Reiches selbst vor Augen hatten, war die Ursache weiterer Verletzungen.
Man muss die Verbindung Celans zur Gruppe 47 wohl in vieler Hinsicht tragisch nennen. 1952 las Celan die Todesfuge während einer Tagung der Gruppe in Niendorf an der Ostsee. Es war sein Debüt in diesem Kreis und auch ein Durchbruch. Bei der anschließenden Wahl für den Preis der Gruppe 47 kam Celan, nach Ilse Aichinger, die den Preis zugesprochen bekam, auf den dritten Rang. Er erhielt das Angebot für einen Gedichtband, einen Rundfunkvertrag. Doch, das ist das Entscheidende, überlagert wird dieser Erfolg bis heute von einem Eklat, den die Reaktion Hans Werner Richters auslöste. Ihn hatte die Art des Vortrags von Celan an Joseph Goebbels erinnert. Dass Richter seinen infamen Vergleich beim anschließenden Mittagessen auch noch coram publico kundtat, war sicher mehr als ein Missverständnis, ja selbst der „peinlichsten Weise“, wie Heinrich Böll den folgenreichen Vorfall später kommentiert hat. Die Abneigung war gegenseitig. Hans Werner Richter, der Initiator der Gruppe 47, galt Celan als Vertreter „eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist“, wie er seiner Frau Gisèle nach Paris schrieb.
Doch die Ablehnung, die Celan fühlte, war entscheidender. Er glaubte sich von der Mehrzahl der Anwesenden in Niendorf zurückgewiesen, weil sie, so sagte er, „Poesie nicht mögen“. Paul Celan kam nicht wieder. Weitere Einladungen in die Gruppe 47 schlug er aus. Vielleicht konnte oder wollte er nicht mehr wahrnehmen, dass sein Erscheinen in Niendorf doch am Ende auch etwas ausgelöst hatte, vielleicht mehr als er erhofft hatte: einen Aufbruch aus der Enge des Realismus ins Offene, in die literarische Moderne, einen Zugang Celans in den Resonanzraum der Bundesrepublik. Im Kreis der Gruppe 47 aber fand man nicht mehr zueinander.
Mir scheint, das galt nicht nur für Celan und die deutsche Literatur jener Jahre. Es gab zu dieser Zeit kaum Formen der Verständigung zwischen den Überlebenden der Shoah und den Vertretern der sogenannten Flakhelfer-Generation.
Adornos Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch, wurde auch deshalb missverstanden. Es war kein Lehrsatz und auch kein Verdikt. Niemandem war untersagt, dem Entsetzen über die Shoah mit sprachlichen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Doch ein Sich-Mitteilen über diesen Graben an Erfahrung blieb auf lange Zeit unmöglich.
Dazu kamen Großkritiker dieser Jahre, die offenbar entschlossen waren, den Tatbestand der Shoah als solchen zu leugnen, indem sie ihn ignorierten. Man sprach Celans Lyrik jeden Erfahrungswert ab und damit auch jede Konkretion. „Reine Poesie“, hieß es. Seine „Metaphernfülle“ sei „weder der Wirklichkeit abgewonnen“, noch diene sie ihr.
Diese Art der Kritik schwieg nicht nur selbst über die Verbrechen des Nationalsozialismus, sie schwieg auch die tot, die davon sprechen wollten, es sogar mussten.
Denn die Erinnerung an die Shoah und damit auch das Sprechen über sie waren vielen Überlebenden eine Verpflichtung. Wer durch Schweigen zum Vergessen beiträgt, heißt es in Elie Wiesels Plädoyer für die Überlebenden, der „vollendet das Werk der Mörder“. Zeugnis abzulegen war existenziell, war Bürde und Bedürfnis zugleich. Sollte die Tatsache, dass es unter den Überlebenden der Shoah Dichter gab und Schriftsteller, ihr Unglück gewesen sein, so ist das beschämend für die Bundesrepublik dieser Zeit.
Die Starre dieser Jahre löste sich erst eine Generation später. Marcel Beyer, geboren 1965, und Durs Grünbein, 1962 geboren, gehören ganz offenkundig zu den Empfängern der Celanschen Flaschenpost. Beim Lesen der Todesfuge, dem abgründigsten und bekanntesten der Gedichte Celans, stellt Grünbein fest: Es ging um Scham, „um eine große Scham. Die Scham dessen, der sich dafür schämt, dass offenbar kaum einer unter den Menschen seiner Zeit sich schämte“. Marcel Beyer begegnet den Ungeheuern in Vergangenheit und Gegenwart mit einem „Dämonenräumdienst“.
Die Literatur, auch die Lyrik, fand Formen für das Sprechen und Erzählen über und nach Auschwitz. Imre Kertész sprach von einem atonalen Erzählen, Paul Celan von einer „graueren Sprache“, deren Musikalität nichts mit Wohlklang gemein haben sollte. Und beide trafen damit schließlich auch, was Adorno meinte: Weil das erlebte Grauen sich nicht mehr einfügen ließ in eine allen gemeinsame Erfahrungswelt, musste sich auch die Sprache allem bislang Dagewesenen, Erprobten und Kultivierten widersetzen.
Hinter diese Erfahrung gab es keinen Weg zurück. Paul Celan war ein durch und durch Vertriebener, wie Durs Grünbein erklärt, der niemals ankommen konnte; einer, der Zwiesprache führte mit anderen Verbannten, mit Ovid, mit Dante, mit Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa, der nie Franzose wurde und in der deutschen Dichtung ein Solitär geblieben ist.
Das Czernowitz Paul Antschels, die rumänische Stadt, in der die verbliebenen Kakanier des untergegangenen Habsburgerreichs in ungezählten Sprachen miteinander redeten, die Stadt, in der seine ersten Gedichte unter den Freunden herumgereicht wurden, gab es nicht mehr. In Paris ging ein Menschenleben später ein großer Dichter in die Seine. „Er ist auf dem Transport im Fluss ertrunken“, schrieb Ingeborg Bachmann, die ihn verstanden hatte.
Man hat ihn vertrieben, den deutschsprachigen Juden, aus einer Stadt und einer Kultur, die so polyglott war, dass man nicht anders kann, als Paul Celan einen Dichter Europas zu nennen.
Heute wird er gefeiert, nicht nur hier in Berlin, vor wenigen Tagen in Mannheim und andernorts in Deutschland, er wird in ganz Europa gefeiert, ja auch im geliebten „Halb-Asien“, in der Stadt, aus der er vertrieben wurde, in Czernowitz, wo schon seit Jahren ein Literaturfestival jedes Jahr im Herbst an ihn, an Celan, erinnert. Und hätte die Pandemie es nicht vereitelt, dann wäre er dort in diesem Jahr seines hundertsten Geburtstags womöglich so vielstimmig und vielsprachig gefeiert worden, wie es Czernowitz zur Zeit Paul Antschels einmal war.
Lieber Eric Celan, Ihre Reise mit Bertrand Badiou heute war lange geplant. Dann mussten wir uns doch gemeinsam fügen und dem Gebot der Vorsicht folgen. Ich weiß aber, Sie sind heute Abend in Paris nicht nur zugeschaltet, Sie sind mit dem Herzen bei uns hier in Bellevue. Und ich kann Ihnen versichern, wir auch bei Ihnen in Paris.
Liebe Barbara Wiedemann, lieber Bertrand Badiou, Ihnen und Ihrer Arbeit verdanken wir und verdankt nicht zuletzt auch dieser Abend viel. Auch Ihnen meinen ganz besonders herzlichen Dank!
Meine Damen und Herren, vielen Dank Ihnen allen, dass Sie heute hier sind oder uns zuhören. Ich wünsche uns einen anregenden, einen schönen Abend.
Die Rede (auch in anderen Sprachen) im Internet auf der Webseite www.bundespräaesident.de