Zur Geschichte einer der ältesten Druckschriften Brandenburgs
Von Martin Mende
Aus den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins Heft 1/2011
siehe auch: Sumarius
Im 16. Jahrhundert gab es noch keine Zeitungen und das Informationsbedürfnis wurde durch Flugblätter, Flugschriften, Briefe und Mitteilungen befriedigt. Um 1500 konnten in Brandenburg nur etwa 4 % der Bevölkerung lesen, bei den Stadtbewohnern kann man von einem Drittel ausgehen.[1] Die ersten Druckereien Brandenburgs finden wir in Frankfurt/Oder, seit 1506 Universitätsstadt. Mitte 1509 übernahm dort Johannes Jamer aus Hanau, kurz Johann Hanau genannt, eine von Conrad Baumgarten 1505 gegründete Druckerei und verlegte vornehmlich philologische Schriften. Sein Druckersignet war ein heraldischer brandenburgischer Adler mit Kurschildern, übernommen von seinem Vorgänger. Hanau bezeichnete sich seit 1514 ausdrücklich als Universitätsbuchdrucker und war auch für den kurfürstlichen Hof tätig.
1510 fand in Berlin im deutschen Raum der letzte große Hostienfrevel-Prozess gegen die Juden statt. Danach konnte im Zeitalter der Reformation ein derartiger Anklagepunkt nicht mehr glaubhaft vorgetragen werden. Die Ereignisse von 1510 wurden durch zahlreiche weitgehend identische Flugschriften im gleichen Jahr deutschlandweit verbreitet und waren geprägt von antijüdischer Polemik und eindeutiger politischer Ausrichtung. Es handelte sich dabei um drei Druckschriften in Hoch- und Niederdeutsch. Sicher nachgewiesene Monographien von 1510 sind die vier bis fünf Blatt umfassenden Drucke von Martin Landsberg (Leipzig), Hieronimus Höltzel (Nürnberg) und Hans Schober (München)[2] Das anhaltende Interesse veranlasste auch Johann Hanau noch 1510, zwei fünf Blatt umfassende Berichte über den Prozess - abweichend von seinem üblichen Verlagsprogramm - herauszugeben. Die Schmähschriften sollten nicht zuletzt das Vorgehen gegen die Juden legitimieren und die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften verdeutlichen. Sein dritter Druck vom Frühjahr 1511 war wesentlich umfangreicher und mit zahlreichen Holzschnitten versehen. Dessen vollständiger Titel lautet:
„Ditzs ist der warhafftig Sumarius der gerichts hendel unnd proceß der gehalten ist worden uff manchfaldig Indicia/ aussag/ unnd bekenntnus eines Paul From genant der das hochwirdig Sacrament sambt einer monstrantzien (...) auß der kyrchen zu Knobloch gestolen. Und auch der begangen hendell der Juden die ir thetliche hennde an das aller heiligst hochwirdigst Sacrament Unnd vil unschuldige cristliche kinder torstiglich geleget. unnd im zehende jar zu Berleinn gerechtfertigt sein wordenn." Auf der letzten Seite unten finden wir: „Gedruckt zu Franckfurt an der Oder durch Johannem Hanaw. im jar tausent funfhundert und im eylfte / Sonabent vor unser lieben frawen liechtmeß."
Hanau ließ noch im gleichen Jahr eine niederdeutsche Ausgabe mit den gleichen Holzschnitten auflegen. Der Verfasser wurde nicht genannt, nach dem inhaltlichen Aufbau dürfte es sich um den Doktor der Rechte Gregorius Günther handeln, der seit 1498 als kurfürstlicher Oberrichter und bischöflicher Offizial in Frankfurt/Oder und ab 1509 Rektor der dortigen Universität wirkte. Unter dem kurzen Titel Sumarius haben die beiden Druckwerke von 1511 Einzug in die wissenschaftlichen Abhandlungen gefunden.
Wir erfahren, dass ein ambulanter christlicher Kesselflicker, Paul Fromm aus Bernau, am 6. Februar 1510 aus der Dorfkirche von Knobloch nordwestlich von Brandenburg/Havel eine vergoldete kupferne Monstranz und eine Messingbüchse mit zwei geweihten Hostien stahl. Fromm wird im Juni des Jahres in Bernau verhaftet, behauptet zunächst, beide entwendeten Hostien aufgegessen zu haben, äußert aber später unter Folter, eine der Hostien an den Spandauer Juden Salomon verkauft zu haben. Nach Folterungen „gesteht" Salomon, die Hostie mit einem Messer malträtiert zu haben, um das christliche Dogma, die Realpräsenz Christi im Sakrament, zu überprüfen. Die Hostie zerbrach in drei Teile , ein Drittel habe er an den Juden Jacob in Brandenburg/Havel und ein weiteres Drittel an den Juden Marcus in Stendal entsprechend einer vorherigen Absprache gesandt. Das verbliebene Hostienteil habe seinen Versuchen widerstanden, es in einem Gewässer und in einem Feuer zu vernichten. Er habe es schließlich in einen Weizenteig gedrückt, der sich zu seinem Schrecken rot färbte. Daraufhin will er den Teig, zu einem Matzkuchen geformt, in einen Ofen gelegt haben. Auf wundersame Weise sah er im Ofen einen hellen Glanz und über dem Kuchen ein Kind mit segnend ausgebreiteten Armen. Den Matzkuchen will er schließlich in der Spandauer Synagoge aufgehängt haben. Der Jude Jacob äußerte sich unter Folter , er habe sich im Beisein des Rabbi Sloman des Hostienfrevels schuldig gemacht. Vom Juden Marcus und weiteren Glaubensbrüdern wurden durch Folter entsprechende „Geständnisse" erzielt. Als neue Vorwürfe gegem die Juden kamen Anschuldigungen hinzu , in früheren Jahren christliche Kinder gekauft zu haben, um sie zu martern und zu töten. Man unterstellte, dass die Juden dem Blut unschuldiger Christenkinder eine heilende Wirkung bei Krankheiten zuschrieben.
Gegen 51 Juden aus Brandenburg einschließlich Berlin kommt es zur Anklage, 41 Juden von ihnen sowie der Christ Paul Fromm wurden am 19. Juli 1510 auf dem Neuen Markt in Berlin zum Tode verurteilt. Die restlichen zehn haben wahrscheinlich die Folter nicht überlebt oder entzogen sich durch Suizid. 38 Juden wurden am gleichen Tage auf einem Scheiterhaufen vor der Stadt verbrannt, Paul Fromm in einem gesonderten Feuer. Zwei zum Christentum übergetretenen Personen starben durch Enthauptung, ein als Augenarzt tätiger Jude überlebte durch Begnadigung. Auf Weisung des Kurfürsten Joachim I. hatten alle Juden unter Zurücklassung ihres Vermögens die Mark Brandenburg zu verlassen.
Auf dem Fürstentag in Frankfurt/Main 1539 musste Kurfürst Joachim II. von Brandenburg durch einen Vortrag von Philipp Melanchthon zur Kenntnis nehmen, dass die Juden 1510 zu Unrecht beschuldigt worden waren. Paul Fromm hatte bei der letzten Beichte vor seinem Tode eingeräumt, den Verkauf der Hostie an den Juden Salomon erfunden zu haben. Der Priester wollte die Hinrichtung der Juden verhindern, aber sein Brandenburger Bischof gebot ihm Stillschweigen. Erst nach der Reformation wagte der Priester die Klarstellung.
Daher erstaunt es, dass noch um 1900 im Dom von Brandenburg einige Messer, mit denen die Juden im Jahre 1510 die Hostie durchstochen haben sollen, aufbewahrt und den Besuchern des alten Bauwerks gezeigt wurden, wie Aron Ackermann in der von ihm herausgegebenen Geschichte der Juden in Brandenburg a. d. H. (Verlag Louis Lamm Berlin 1906) berichtet.
Von den Druckschriften über den Schauprozess gegen die märkischen Juden 1510 haben sich nur wenige Exemplare erhalten. Die Bayerische Staatsbibliothek hat zwei in ihrem Eigentum befindliche erste Prozessberichte - „ Ein wunderbarlich geschichte, wie die Merckischen juden das hochwirdig Sacrament gekaufft und zu martern sich unterstanden"- durch Einstellung in die Digitale Bibliothek allgemein zugänglich gemacht. Gleichartige Drucke von 1510 befinden sich auch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle. Die Stiftung Stadtmuseum Berlin besitzt eine fast vollständige niederdeutsche Ausgabe des Sumarius von Johann Hanau vom März 1511. Die Königliche Bibliothek zu Berlin hatte mehrere Ausgaben der Drucke, u. a. aus dem Besitz von J. C. W. Moehsen einen drei Folioblatt umfassenden Druck von 1510, erschienen bei Höltzel in Nürnberg. Die heutige Staatsbibliothek Berlin bezeichnet alle als Kriegsverlust. Schließlich ist noch ein Druck des Sumarius von 1511 aus Frankfurt/Oder mit 22 Blatt und vier Holzschnitten in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien bekannt.
Der Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, ist seit 1871 Eigentümer eines Sumarius in hochdeutscher Sprache, gedruckt von Johann Hanau in Frankfurt/Oder im Februar 1511. Dieser Druck im Format 18 X 13 cm mit 22 Kleinoktav-Blättern hat eine bewegte Geschichte. Nach einer Eintragung im Umschlagdeckel schenkte der Agent Osterwald die seltene Schrift am 14. Oktober 1871 der Vereinsbibliothek. Das Titelblatt ist eine handschriftlich beschriebene Anfertigung aus dem 19. Jahrhundert. Es fehlt leider die Originaltitelseite mit einem Holzschnitt, der Kurfürst Joachim I. inmitten seiner Räte darstellt. Die beim Vereinsexemplar auch fehlende letzte Seite zierte ein Holzschnitt mit dem Wappenadler von Brandenburg. Das Aussehen der fehlenden Seiten ist durch andere Exemplare und eine Buchhändleranzeige des Druckers aus dem Jahre 1511 nachgewiesen.
Der Verein für die Geschichte Berlins veröffentlichte 1884 eine umfangreiche Schrift über das Strafverfahren von 1510.[3] Der Verfasser Friedrich Holtze spricht 1884 noch von 25 Holzschnitten und auch der Vereinsbibliothekar Hugo Guiard führte im ersten gedruckten Katalog der Vereinsbibliothek von 1896 unter der Nummer 2818 den Sumarius mit seinem vollen Titel auf und dem Zusatz: „21 Folien Druck in klein Quart, Titelblatt handschriftlich, 25 Holzschnitte." Tatsächlich enthält der im Eigentum des Vereins befindliche Sumarius nur 24 Holzschnitte. Da zweimal ein und derselbe Holzschnitt hintereinander abgedruckt wurde (Bild 12 und 13 sowie Bild 20 und 21), sind aber nur 22 Motive vorhanden. Die Holzschnitte sind von vergleichsweise minderer Qualität und wurden uneinheitlich in den Text eingefügt. Holtze schreibt 1887 über die Holzschnitte: „So gering der künstlerische Wert der für dieses Werk gezeichneten und in roher Strichmanier in Holz geschnittenen 23 Abbildungen ist, von denen zwei doppelt abgedruckt worden sind, so geben sie doch in der erfreulichen Weise die mannigfaltigen Aufschlüsse fast über den gesamten Umfang des häuslichen Lebens in jener Zeit."[4] Holtze wie auch andere Autoren haben später von den „ersten Berlin-Darstellungen" auf einigen Holzschnitten des Sumarius gesprochen, aber eine Detailtreue konnte man zu dieser Zeit noch nicht erwarten. Der Holzschneider wird z. B. nicht die Marienkirche von Berlin als Vorlage gekannt, sondern eine Kirche in ihren typischen Umrissen angedeutet haben.
1912 war der Sumarius in der Vereinsbibliothek für einige Zeit nicht mehr auffindbar; nach seiner Rückkehr verschwand er erneut in den 1940er Jahren. Wie sich später herausstellte, hatte der Vorsitzende des Vereins Herrmann Kügler, die Druckschrift an sich genommen, ohne andere Vorstandsmitglieder zu unterrichten. Heinrich Grimm schreibt in einer Abhandlung 1958, dass das „ Exemplar ohne Titelblatt des Vereins für die Geschichte Berlins mit dessen Bibliothek 1945 ebenfalls verlorengegangen [sei].[5] Ende 1961 kam der Sumarius aus dem Nachlass von Kügler zusammen mit anderen geretteten Beständen zurück in die Vereinsbibliothek. Seitdem ist die Schrift immer wieder Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Fritz Backhaus ging 1988 ausführlich auf die Ereignisse und die schriftliche Überlieferung ein. Christine Mittlmeier stützte sich bei ihren Recherchen auf den Text unseres Sumarius und das Jüdische Museum Berlin vergrößerte 15 Holzschnitte daraus für seine Daueraustellung.[6] Unter dem Titel „Das Verhängnis der Mark Brandenburg - Der Hostienschändungsprozess von 1510" hat das Stadtgeschichtliche Museum Spandau im Zeughaus der Zitadelle in Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte eine aufschlussreiche Dokumentation zusammengestellt und den Sumarius des Vereins als wichtige Leihgabe der Öffentlichkeit präsentiert. Die Ausstellung läuft noch bis zum 30. Januar 2011. Seit September 2010 ist die Schrift von 1511 auf der Webseite des Vereins im PDF-Format [4,5 MB] abrufbar.
In der Stadt erinnert ein Gedenkstein neben dem Haus Mollstraße 11 in Berlin-Mitte an die Opfer der Judenverfolgung von 1510. Auch die bei Restaurierungsarbeiten am Palas der Zitadelle Spandau aus dem Mauerwerk geborgenen jüdischen Grabsteine sind erst durch die Vertreibung der märkischen Juden 1510 als Baumaterial zu erklären und zeugen nach ihrer jetzigen Aufstellung in der Bastion Königin der Zitadelle von der Zerstörung des Spandauer jüdischen Friedhofs als Folge der Ereignisse von 1510.
- Moeller, Bernd: Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977,
S. 36 - Deutsche Geschichte in 12 Bdn., Bd. 3, Berlin 1983
- Holtze, Friedrich: Das Strafverfahren gegen die märkischen Juden im Jahre 1510, Heft 21 der Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1884
- Holtze, Friedrich: Berliner Ansichten aus dem Jahre 1510, in „Der Bär" 1887, S. 84
- Grimm, Heinrich: Die Holzschnittillustrationen in den frühen Drucken aus der Universitätsstadt Frankfurt an der Oder, 1958
- Backhaus, Fritz: Die Hostienschändungsprozesse von Sternberg (1492) und Berlin (1510) und die Ausweisung der Juden aus Mecklenburg und der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 39/1988; Mittlmeier, Christine: Publizistik im Dienste antijüdischer Polemik - Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Flugschriften und Flugblätter zu Hostienschändungen, Frankfurt am Main 2000
Nachtrag
Nach dem Erscheinen der Abhandlung in den Mitteilungen des Vereins habe ich die Information erhalten, dass kein Exemplar des Sumarius in der Österreichischen Nationalbibliothek vorhanden ist. Die stellvertretende Leiterin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken Monika Kiegler-Griensteidl bedauerte den fehlerhaften Eintrag im Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jh. (VD 16, auch im BVB).
Demnach ist kein Sumarius in Wien vorhanden und die beiden Exemplare in Berlin sind die einzigen im deutschsprachigen Raum noch nachweisbaren. Im Verzeichnis der National Library of Scotland Edinburgh ist ein weiterer Sumarius gelistet. (http://discover.nls.uk/default.ashx?q=sumarius).
Martin Mende im Januar 2011