Die Besichtigung der Stadtbibliothek
Am 15. Juni um 7 1/2 Uhr abends hatten sich auf Anregung mehrerer Bücherfreunde und mit Zustimmung des Direktors der Stadtbibliothek viele Mitglieder unseres Vereins mit ihren Damen, etwa 100 Personen, in den neuen Räumen der Stadtbibliothek im früheren Königl. Marstall, Breite Straße 37, zu ihrer Besichtigung eingefunden. Als Vertreter der durch Reise oder Krankheit am Erscheinen verhinderten drei Vorsitzenden eröffnete Dr. H[ans] Brendicke die Versammlung, worauf der Direktor der Stadtbibliothek, Dr. Arend Buchholtz, herzliche Worte der Begrüßung an sie richtete; er erinnerte an den altgeschichtlichen Boden, auf dem sich nun die Bibliothek befinde, umgeben von ehrwürdigen Denkmälern der Vergangenheit: dem einst kurfürstlichen, dann königlichen Schloß an der Spree, dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm) usw., und ging dann kurz auf die Geschichte der Stadtbibliothek ein.
Ihre Gründung ist im März 1898 von dem Etatsausschuß der Stadtverordnetenversammlung angeregt worden, die schon damals nicht nur die Errichtung einer städtischen Zentralbücherei, sondern auch den Bau eines Bibliotheksgebäudes wünschte und den Magistrat aufforderte, ihrem Beschlusse beizutreten. Der Magistrat erwiderte hierauf, die Vorbereitung und Vollendung eines Bibliotheksgebäudes würden mehrere Jahre erfordern, in der Bibliotheksverwaltung herrsche aber so ein Notstand, daß eine baldige Abhilfe unabweisbar sei. Im Januar 1900 siedelte sodann die bis dahin im Rathause untergebrachte Verwaltung der städtischen Volksbibliotheken und Lesehallen nebst ausgeschiedenen Büchern der Magistratsbibliothek und der ungeteilten Göritzschen Bibliothek in hierzu eingerichtete Räume des Sparkassengebäudes, Zimmerstraße 90/91, über.
Mit diesem Provisorium gab sich indessen die Stadtverordnetenversammlung nicht zufrieden: sie ersuchte im März 1900 den Magistrat, ihr nunmehr ein Programm für das städtische Bibliothekswesen vorzulegen. Ein Jahr später lag dieses vor, das auch wiederum die Notwendigkeit eines Bibliotheksgebäudes betinte, die Stadtbibliothek sich aber als eine wissenschaftliche Geschäftsbibliothek für die städtischen Behörden dachte mit besonderem Ausbau der Staatswissenschaften und des Gemeindewesens. Ferner sollte sie die Geschichte der eigenen Stadt sowie Landesgeschichte und Landeskunde pflegen.
Die Stadtverordnetenversammlung lehnte indessen diese Vorlage zum großen Teil ab und wünschte, die Stadtbibliothek solle nicht nur die Zentralstelle der städtischen Volksbibliotheken und Lesehallen, sondern eine Anstalt für das gesamte Bildungsbedürfnis unserer Stadt sein. Am 13. Juli 1901 erklärte sich der Magistrat mit den Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung einverstanden. Im Etat für 1902 wurden die ersten Mittel für die Stadtbibliothek bewilligt.
Am 15. Oktober 1907 wurden Bücherausgabe und Lesesaal eröffnet. Der Bücherbestand betrug damals schon 86 000 Bände und ist zur Zeit auf 181 000 Bände angewachsen. (Literaturgeschichte und schöne Literatur 39 000, Geschichte 29 000, Zeitschriften, Zeitungen, Buch- und Bibliothekswesen 14 600, Erdkunde 13 000, Kunst 11 000, Sprachwissenschaft 9000 Bände usw.) Dieser Erfolg ist nicht nur den von Jahr zu Jahr steigenden Zuschüssen aus Gemeindemitteln, sondern zum großen Teil Stiftungsmitteln zu danken.
Die beiden Stifter, denen die Stadtbibliothek größten Dank schuldet, sind Prof. Dr. Friedrich August Leo, der bekannte Shakespeareforscher, und der gelehrte Buchhändler und Antiquar Albert Cohn. Beide haben den städtischen Bibliotheken beträchtliche Geldmittel hinterlassen, so daß die jährlichen Zinsen zur Zeit 65 000 M betragen. Dazu kamen wertvolle Büchervermächtnisse: Cohn vererbte ihr seine ansehnliche Sammlung bibliographischer Nachschlagewerke und seine überaus wertvolle Werther-Bibliothek nebst einer Mappe von Bildern zu "Werthers Leiden".
Rudolf Mosse stiftete der Stadt Berlin 10 000 M, und die hierfür schon vor Gründung der Stadtbibliothek erworbenen 2000 Bände aus dem Gebiete der neuesten Geschichte gingen in ihren Besitz über. - Dr. Georg Friedlaenders Wunsche gemäß übergab seine Witwe die von ihm gesammelte Literatur vornehmlich zur Geschichte der Bewegung von 1848 der Stadt Berlin zum Geschenk; auch diese wertvolle und viel benutzte Bücherei nebst sieben großen Foliomappen mit Plakaten und anderen Einzelblättern ist Eigentum der Stadtbibliothek. - Der Berliner Schulrektor Prof. August Engelien übergab ihr seine Bibliothek zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Mundarten (5450 Bände).
Dr. Emil Jacobsen, der sich als Dichter Hunold Müller von der Havel nannte, vermachte ihr seine kostbare deutsche Sprickwörterbibliothek (2200 Bände). - Der Verein Frauenwohl übergab ihr seine Bibliothek zur Frauenfrage. - Die umfangreichste Büchersammlung (10 000 Bände in schönen Einbänden: Kunstzeitschriften, Geschichte, Erdkunde, schöne Literatur) verdankt die Stadtbibliothek dem verstorbenen Dr. Georg August Freund. - Die letzte große Bücherstiftung (5150 Bände) übergab im Jahr 1919 Frau Maria von Wildenbruch der Stadtbibliothek mit der Bibliothek ihres verewigten Gatten Ernst von Wildenbruch: sie nimmt, wie auch die Jacobsensche Stiftung, ein besonderes Zimmer ein, das zugleich die Möbel und Bilder aus der Wohnung des Dichters, Hohenzollernstraße 14, umfaßt.
Im Jahre 1920 erwarben die Gemeindebehörden die sozialistische Bibliothek des verstorbenen Stadtverordneten Emil Basner (3900 Bände). Endlich sind in die Stadtbibliothek noch große Bücherbestände aus folgenden Bibliotheken eingegangen: Dr. Theodor Wagener, Rudolf Virchow, Fr. A. Leo, Prof. Friedrich Schneider, Prof. Dr. Heinrich Hahn, Prof. Dr. Julius Rodenberg, Karl Kühne, Fedor Jagow, August Gebel, Karl Hillebrand usw.
Schon lange waren die Räume in der Zimmerstraße der Bibliothek zu eng geworden. Im Juni 1914 beschlossen die Gemeindebehörden die Erbauung eines Bibliotheksgebäudes auf dem Inselspeicher-Grundstück; dort sollten auch das Stadtarchiv und die städtische Kunstsammlung untergebracht werden. Der Krieg hat diese Hoffnungen vernichtet, und die schönen Pläne Ludwig Hoffmanns bleiben unausgeführt. Nun galt es, eine andere Unterkunft für sie suchen.
Im einstigen Königl. Marstall hat die Stadtbibliothek, namentlich Dank den Bemühungen des Bürgermeisters Dr. Reicke, in jeder Hinsicht würdige Räume geworden, und zwar haben im Zwischengeschoß der größte Teil der Bücherbestände, im 1. Obergeschoß die Bücherleihstelle, der Lesesaal und Arbeitsräume, im 2. Obergeschoß einige Stiftungsbibliotheken und das Bureau Platz gefunden, nachdem die Räume nach Plänen der Hochbaudeputation vom städtischen Hochbauamt I (Baurat Knopff, Baumeister Grumbach und Steinert, Architekt Frobeen), in stetem Einvernehmen mit der Bibliotheksdirektion, zweckentsprechend, behaglich und geschmackvoll hergerichtet worden waren, unter Verwendung des alten Mobiliars und von der Rathausverwaltung bereitwillig herausgegebenen Bilderschmucks.
Besonders prächtig macht sich der durch zwei Stockwerke gehende Lesesaal, der 108 Arbeitsplätze aufweist. Zu beiden Langseiten stehen Büchergestelle mit 6000 Bänden Nachschlagewerken. An den Wänden sind Bildnisse bekannter Berliner Gelehrten und Künstler angebracht: Rudolf Virchow (von Hugo Vogel), Richard Lepsius und Alfred Messel (beide von Reinhard Lepsius), Rudolf Genee (von Ernst Heilemann), ferner Rud. Knötels Darstellung des Kampfes am Königstor (4. März 1813).
In der Bücherleihstelle hängen die Bildnisse von Julius Rodenberg (Kopie des Ölbildes von Vilma Parlaghi) und Rudolf Mosse (Radierung); im Direktorzimmer die Ölbildnisse von Schiller (nach Tischbein), Paul Heyse (von Kunz-Meyer) und Gerhart Hauptmann (von Hanns Fechner), eine aus seiner Leipziger Zeit stammende Radierung von Goethe, ein Reliefbildnis Schillers, die bekannten Bauseschen Kupferstiche nach den Bildnissen von Lessing, Moses Mendelssohn, Gellert, Ramler, Rabener, das Stauffer-Bernsche Porträt Gustav Freytags (Radierung) u. a.
Der größte Arbeitsraum des Bibliothekspersonals liegt an der Ecke des Schloßplatzes und der Spree mit herrlichen Blicken auf das Schloß und das Standbild des Großen Kurfürsten (Friedrich Wilhelm). Er enthält die hohen Eichenholzbüchergestelle der Freundschen Bibliothek mit vielen hundert Bänden.
Von ihrer Entstehung an ist die Stadtbibliothek lebhaft benutzt worden. Sie verleiht zur Zeit durchschnittlich 800 Bände täglich, und im Lesesaal erscheinen 200 bis 300 Personen in den elf Stunden (10 bis 9 Uhr), in denen die Bibliothek geöffnet ist. Die Benutzung wird durch die gerduckten Kataloge (16 Großoktavbände, zu denen noch die gedruckten Verzeichnisse der Friedlaenderschen Sammlung und der Bibliothek zur Frauenfrage kommen) und den alphabetisch geordneten Autorenzettelkatalog wesentlich erleichtert. Da der hohen Kosten wegen keine Kataloge mehr gedruckt werden können, sind die Katalogbände mit weißem Papier durchschossen worden, auf denen die Erwerbungen handschriftlich nachgetragen werden.
In den 20 Jahren ihres Bestehens ist die Berliner Stadtbibliothek zu einer der größten und meistbenutzten Bildunsganstalten unserer Stadt geworden. Zu wünschen ist ihr, daß ihr auch in Zukunft reiche Gel- und Bücherstiftungen zuteil werden mögen.
Dr. Br[endicke]
Aus: "Mitteilungen" 38, 1921 S. 26-27. Redaktion: Gerhild H. M. Komander 12/2003
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