Fortuna für die Stadt
Zur Wiederaufstellung der Kuppelfigur auf Ludwig Hoffmanns Stadthaus
Von Susanne Kähler
Im vergangenen Jahr, als sich sein Geburtstag zum 150. Mal jährte, erfuhr der Architekt und Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann (Darmstadt 1896 - 1932 Berlin) einige Aufmerksamkeit durch Ausstellungen, Publikationen und Veranstaltungen. Die Restaurierungsmaßnahmen am Alten Stadthaus in Berlin-Mitte wurden, besonders was den Skulpturenschmuck betrifft, weiter vorangetrieben und in Kürze wird auch die kupferne Figur der "Fortuna" als höchste Freiplastik der Stadt wieder aufgestellt und mit einem Festakt gewürdigt.
Das "Neue Stadthaus" - wie es damals hieß - entstand in den Jahren 1902 bis 1911 als monumentales Hauptwerk Hoffmanns im Karree zwischen Jüden-, Parochial- und Klosterstraße sowie Stralsunder Straße zur Beherbergung einiger Abteilungen der Berliner Stadtverwaltung sowie eines Festsaales. Die Architektur des Hauses, seine Geschichte, sowie die aktuellen umfangreichen Restaurierungsmaßnahmen waren verschiedentlich Gegenstand von Forschungen und Publikationen.Anmerkung der Redaktion: *Gemeint ist das als Staatsratsgebäude der DDR errichtete Gebäude.Anmerkung der Redaktion: *Gemeint ist das als Staatsratsgebäude der DDR errichtete Gebäude.[1]
Wie bei den meisten seiner Bauten legte Ludwig Hoffmann auch bei diesem wichtigen öffentlichen Bau besonderen Wert auf die Ausstattung mit Skulpturelementen, sowohl in den Innenräumen als auch am Außenbau. Zusammen mit seinem Freund und Architektenkollegen Alfred Messel (1853-1909) und einer Gruppe von Bildhauern setzte Hoffmann in diesem auch heute noch zu wenig beachteten - Gebiet neue Akzente und verhalf der Bauplastik in Abkehr von der Überladenheit neubarocker Bauten zu neuer Erscheinung.
Die Restaurierung und Wiederherstellung der Bauplastik des Stadthauses innen wie außen hat daher eine besondere Bedeutung, allem voran die Wiederaufstellung der Turmfiguren.[2] Die elf freiplastischen Muschelkalkskulpturen des Turmsockelgeschosses, im wesentlichen antike Götter darstellend, sind zwar beschädigt und durch teilweise schlechte Lagerung auf einem Freigelände in Ahrensfelde zusätzlich stark verwittert, aber immerhin zum Großteil erhalten. Sie werden ebenso nach 25 Jahren der Abwesenheit an ihren ursprünglichen Standort postiert, wie auch die acht Figuren des darüber liegenden ersten Turmgeschosses. Die insgesamt neunzehn männlichen und weiblichen Figuren in der Größe von ca. 2,70 m sind Arbeiten der Bildhauer Wilhelm Widemann (1956-1915) und Josef Rauch (1868-1921). Sie sind mit ihrem Symbolgehalt Teil eines inhaltlich komplexen Ausstattungsprogramms.[3]
Die kupferne Kuppelfigur Fortuna, ein Werk des süddeutschen Bildhauers Ignatius Taschner (1856-1913), hat - entsprechend ihrer gesonderten Stellung - ein anderes Schicksal erfahren. Den Zweiten Weltkrieg hatte die Kuppelfigur ebenso wie die meisten steinernen Turmfiguren überstanden. Bis 1951 krönte die auf einer vergoldeten Kugel stehende weibliche Aktfigur mit Füllhorn, erhobener Rechten und Lorbeerkranz auf dem Haupt die Stadthauskuppel. Dann wurde sie für die nächsten fünfzig Jahre durch eine rotweiße Fernsehantenne ersetzt. Die Fortuna lagerte man damals in die Kuppel ein, bei einer Begehung 1975 bemerkte man allerdings ihre Abwesenheit.
Das Schicksal der entwendeten Fortuna ist gänzlich unbekannt, vermutlich wurde sie eingeschmolzen. Im sich in Süddeutschland befindlichen Nachlass Ignatius Taschners, fand sich im Jahr 2001 überraschenderweise ein Gipsmodell der Figur in der Größe 1:10, das nun als detailgenaue Vorlage einem Bildhauer zur Rekonstruktion der Kuppelfigur zur Verfügung stehen konnte. Neben dem Gipsmodell sind verschiedene Fotografische Ansichten des 1:1 Originalmodells von Taschner erhalten, zusätzlich gibt es Ansichten der endgültigen Figur - wenn auch aus großer Entfernung aufgenommen. Der Bildhauer, der im vergangenen Jahr das neue 1:1 Modell aus Kunststoff und Gips anfertigte, war Joost van der Velden. Bernd Helmich übernahm die Ausführung als Kupfertreibarbeit und die Montage.
Ermöglicht wurde die Rekonstruktion dieser für die Stadt Berlin symbolträchtigen Plastik durch eine großzügige Spende des Unternehmers und Kunstmäzens Peter Dussmann. Die Entstehungsgeschichte der Figur auf der Weltkugel selbst ist nur lückenhaft und zum Teil sogar widersprüchlich überliefert. Der Vertrag mit dem Bildhauer Taschner über die Ausführung eines Modells für die Turmfigur wurde am 5. Juli 1910 geschlossen.[4] Taschner musste bei der Formfindung mehrere Versuche unternehmen, ehe er den Anforderungen des extrem hohen Aufstellungsortes gerecht werden konnte.[5] Belegt ist aber auch eine erstaunlich kurze Entstehungszeit des Modells in zwei Versionen von nur zwei Wochen. Das fein detaillierte Modell im Maßstab 1:10 hat inklusive Plinthe und Weltkugel eine Höhe von 38 cm und entstand wohl zunächst aus Wachs, bevor es in Gips abgegossen wurde. Das Modell wurde anschließend in Gips in Originalgröße übertragen und - um die Wirkung zu überprüfen - mit einem Kran auf die Stadthauskuppel gehoben.
Wie Fotografien belegten, befestigte Taschner Arme und Kopf beweglich mit Haken, um so vor Ort die Silhouettenwirkung der Fortuna verändern zu können. Im Anschluss wurde die Figur in Kupfer getrieben und aufgestellt. Ein zeitgenössischer Bericht der "Deutschen Tageszeitung" belegt sogar, dass Hoffmann sehr unterschiedliche Gipsmodelle Taschners in 1:1 Größe anfertigen und auf die scherzhaft als "Käseglocke" bezeichnete Kuppel heben ließ. Erwähnt werden dort zuerst eine Version als männliche Figur und dann eine Version als weibliche Figur mit zwei Kindern auf dem Arm Darstellungen der Fortuna mit Jupiter und Juno als Säuglinge sind aus der Antike bekannt. Erst danach entschied man sich für die Fortuna mit Füllhorn.[6]
Diesem Zeitungsbericht zufolge wurden die lkonographie der Kuppelfigur und ihre Erscheinung endgültig erst nach Fertigstellung des Turmes festgelegt. Diese unterschiedlichen Modelle erwähnt Hoffmann in seinen Lebenserinnerungen allerdings nicht. Aus dem Zeitungsartikel geht aber Hoffmanns aufwändige Methode hervor, verschiedene Gipsmodelle in Originalgröße tatsächlich auf die Kuppel heben zu lassen, um die Wirkung ihrer Silhouette vor Ort zu erproben. Schließlich berichtete Hoffmann selbst in seinen Lebenserinnerungen, dass er mit der Wirkung der Patina der kupfernen Fortuna auf der Kuppel zunächst unzufrieden war und auch diese nochmals herunterholen und verändern ließ:
"Die Figur steigert in ihrer bescheidenen Größe die Wirkung der Kuppel, ihre bewegte Silhouette erhöht gegensätzlich die ruhige jungfräuliche Erscheinung der Kuppelform, und die etwas nach oben gestreckte vergoldete Kugel unter der Figur löst sie von der Kuppel angenehm los (...) Die bronzene Figur oberhalb der Kuppel ist heute aufgezogen worden, ihre Patinierung ist nicht gut. Sie sieht von unten wie eine schwarz angestrichene Werksteinfigur aus, im Gegensatz zu den unteren hellen Steinfiguren erscheint sie negerhaft. Morgen soll die Patinierung in anderer Weise versucht werden."[7]
Die Wichtigkeit der Aufstellung der neuen Fortuna im Jahre 2003 wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie viel Wert der Architekt Hoffmann auf jedes einzelne Detail seiner Bauten legte. Die bekanntermaßen langen Bauzeiten, die er für viele seiner Werke benötigte, resultierten häufig auch daraus, dass er - der Perfektionist - immer wieder am Bau korrigierte.
Hoffmann berechnete präzise die Größe und die damit verbundene Wirkung aller bauplastischen Figuren, die er außerhalb oder innerhalb der Gebäude anbringen ließ. Seine Berechnungen beruhten auf Studien an antiker Architektur und Renaissancebauten. Er notierte sich häufig auf seinen Italienreisen präzise Größenverhältnisse der von ihm als Vorbilder betrachteten Bauten, beispielsweise die des Architekten Andrea Palladios (1508-1580).[8]
In einer aufwendigen Publikation zum Stadthaus von 1911[9] beschrieb Hoffmann die Wirkung der Kuppelfigur unter Einbeziehung ihrer Größenverhältnisse folgendermaßen: "Die Figur oberhalb des Turmdachs, eine Fortuna mit Füllhorn und Früchten, sollte als einzelnstehende Figur als oberer Abschluß des Gebäudes etwas größer erscheinen als die unteren Figuren. Sie steht 76,87 m über der Straße und ist 3,25 m hoch. Entsprechend der freien Turmsilhouette wurde sie leicht und schlank gestaltet. Dabei mußte Ihre Silhouettenwirkung von allen Seiten aus berücksichtigt werden." Hoffman beabsichtigte demnach, dass die Fortuna größer wirken sollte als die Steinfiguren. Ihre im Verhältnis zu anderen Kuppelfiguren vergleichbarer Gebäude und zum Stadthausbau selbst verhältnismäßig geringe reale Größe steigert allerdings optisch ihre Höhe, eine Wirkung, die Hoffmann sicherlich ebenfalls beabsichtigte.
Wie sehr Hoffmanns Bauten direkte Anklänge an Vorbilder aus der italienischen und deutschen Renaissance beinhalten, ist immer wieder in der Literatur nachgewiesen worden. Bei der Architektur des Stadthauses wird, obwohl der Bau wegen seiner kolossalen Säulenordnung zunächst an barocke Baukunst erinnert,[10] immer wieder auf die italienische Renaissance verwiesen. Der Wandaufbau des Stadthauses, die Quaderung um die Fenster kann unmittelbar dem Wandaufbau von Palladios Palazzo Thiene in Vincenza gegenübergestellt werden.[11]
Die bauplastischen Elemente, die Ludwig Hoffmanns Gebäude zieren, beziehen sich aber ebenfalls häufig auf Vorbilder aus der deutschen oder der italienischen Renaissance. Dazu gehört die Verteilung der relativ schlichten Schmuckelemente an der Fassade (lediglich leichte Betonung des Portals, relativ regelmäßige Verteilung), die Verwendung entweder volkstümlich wirkender Masken, wie etwa umlaufend um den gesamten Baukörper des Stadthauses, oder ganzer porträtähnlicher Köpfe, wie etwa an dem in der Nähe des Stadthauses befindlichen Gebäude für die Berliner Gaswerke an der Littenstraße (beide bauplastische Varianten von Josef Rauch), aber auch die Verwendung ornamentaler Motiven wie etwa das Beschlagwerk am Eingangsportal des Stadtbads in der Oderberger Straße.
Prominentes italienisches Beispiel für eine dem Stadthaus oder dem Verwaltungsgebäude der Gaswerke ähnliche bauplatische Ausstattung ist Sanmichelis Palazzo Bevilaqua in Verona, im rustizierten Sockelgeschoss befinden sich Büsten in der Mitte über jedem Fenster. Den Palazzo Lavezola Pompei (ebenfalls Michele Sanmicheli 1484?-1559) zieren Masken über jedem Rundbogenfenster.
Der Architekt Hoffmann propagierte in seinen Schriften und Reden die Ideale der Renaissance und die damit verbundene Vorstellung des universalen Künstlers, der sowohl als Bildhauer wie auch als Architekt dachte und arbeitete. In Erinnerung an eine Reise nach Verona 1890 schrieb Hoffmann über seine Bewunderung für den Renaissancekünstler Michele Sanmicheli: "Die bildhauerisch geschmückte Fassade seines für ein geselliges Leben bestimmten Palazzo Bevilaqua und das an Skulpturen reiche Innere der Capella Pellegrini führen uns so recht vor Augen, wie wertvoll es ist, wenn der Architekt zugleich als Bildhauer sich betätigt. Nur wenn die Architektur und die Skulptur eines Bauwerks der gleichen Empfindung entsprossen sind und den gleichen Geist atmen, nur wenn beide als eine innerliche Einheit erscheinen, kann von einem vollendeten Kunstwerk die Rede sein.
Und das ist hier der Fall. Als Architekt wie als Bildhauer war Sanmicheli gleich groß".[12] Hoffmann arbeitete selbst nicht als Architekturbildhauer sondern orientierte sich, was das Verhältnis zwischen Baumeister und Bildhauer anbelangt, eher an dem Vorbild Andrea Palladios. Hoffmann bemerkte in den Lebenserinnerungen: "Palladio war nicht wie Sanmicheli sein eigener Bildhauer. In seinem Freunde Alessandro Vittoria hatte er einen ihn voll und ganz verstehenden und gleich empfindenden Künstler gefunden. Dieser hat ihn bei all seinen Bauten getreulich zur Seite gestanden".[13]
Auf der Suche nach einem kongenialen Bildhauer, wie Palladio ihn in Alessandro Vittoria gefunden hatte, stieß Hoffmann zusammen mit Alfred Messel in München auf die Bildhauer Georg Wrba, Josef Rauch und Ignatius Taschner[14], vor allem aber Taschner schätzte Hoffmann sehr aufgrund seines großen Einfallsreichtums. Er kam Hoffmanns Ideal des kongenialen Architekturbildhauers am nächsten. Sowohl Ludwig Hoffmann als auch Alfred Messel suchten ihre architektonischen Schöpfungen von den prunkbetonten Bauwerken eines neubarocken Stils abzugrenzen und wollten hierfür eine neue Form der Bauplastik verwenden. Die Bildhauer, die sie ab 1904 am häufigsten hierfür beschäftigten und zur Umsetzung ihres Stilwollens am geeignetsten fanden, waren die erwähnten süddeutschen Künstler, die alle drei auf Betreiben der beiden Architekten nach Berlin gekommen waren.
Alle drei Bildhauer waren Schüler von Syrius Eberle an der Münchner Akademie gewesen. Hoffmann beschäftigte neben den drei Münchnern in der Zeit nach 1904 in Maßen noch weitere Bildhauer, den bereits erwähnten Wilhelm Widemann, Franz Naager und August Vogel. Der bis dahin führende Berlin Architekturbildhauer Otto Lessing, den Hoffmann bei seinen älteren Bauten eingesetzt hatte, erhielt kaum noch Aufträge von ihm. Lessings Name steht - entgegen den Idealen Hoffmann - für eine neubarocke Tradition der Architekturbildhauerei.[15]
Ignatius Taschner war vor seiner Zeit in Berlin Akademieprofessor in Breslau gewesen. Seine Kreativität im Bereich des Kunstgewerbes bewies er in Berlin zum Beispiel bei seinen figürlichen Beiträgen zum Kronprinzensilber[16], in dessen Ausschuss Hoffmann eine zentrale Rolle gespielt hatte. An den zahlreichen Einzelbauwerken und großangelegten Projekten Hoffmanns war Taschner bis zu seinem frühen Tode 1913 beteiligt. Am Stadthaus sind ihm neben der Fortuna sechs männliche Kalksteinskulpturen auf der Attika über dem Eingang an der Klosterstraßenseite zu verdanken - sie symbolisieren Aspekte der Gerichtsbarkeit.[17]
Außerdem schuf Ignatius Taschner verschiedene Elemente der Innenausstattung, darunter den "Fischbuberl", die Brunnenfigur eines Puttos für das Klosterstraßenvestibül, der - wie auch die Fortuna - auf einer Weltkugel steht. Taschner hat dieses Kugelmotiv häufig für seine Mensch- und Tierplastiken gewählt. Zu der von Taschner gestalteten Innendekoration für das Vestibül des Haupteingangs an der Jüdenstraße gehören Pilaster, Türrahmungen, Fruchtgehänge, Tondi mit vier Männerköpfen und vier Bronzebären auf Kugeln, die ebenfalls nach langer Abwesenheit wieder aufgestellt wurden.
Die Anfänge der Beschäftigung Taschners mit dem Gebiet der Bauplastik lagen bereits in seiner Münchner Tätigkeit vor der Jahrhundertwende, als er beispielsweise verschiedentlich für die Jugendstilarchitekten Henry Helbig und Ernst Haiger arbeitete.[18] Mit dem Thema einer der Fortuna vergleichbaren Freiplastik in großer Höhe hatte sich Taschner lediglich in seiner frühen Zeit beschäftigt, als er sich in München 1896 am Wettbewerb zum Friedensengeldenkmal mit seinem Modell "In Treue fest" beteiligt hatte.[19]
Darstellungen der Schicksalsgöttin finden sich dagegen verschiedentlich im Oeuvre des vielseitigen Taschner, so gab es im von Alfred Messel errichteten Kaufhaus Wertheim ein Fortuna-Relief Taschners von 1904/1905. Hier verwendete Taschner das Motiv aber - passend zu weiteren Arbeiten für dieses Bauwerk - als gotisierendes Relief. Diese Frauengestalt in mittelalterlicher Tracht und Frisur steht wie die Stadthausfortuna auf einer Weltkugel, das Füllhorn nach oben geöffnet. Ihr Gegenüber ist eine Personifikation des Fleißes. Auf die Tür seines eigenen Wandschranks hatte Taschner eine Fortuna auf der Kugel schwebend zwischen Sternen gemalt.[20] Weitere weibliche Figuren, die im Aufbau mit der Stadthausfortuna vergleichbar wären, sind die Steinskulptur "Flora"[21] , ein weiblicher Akt mit Krone und Fahne auf einer Kugel stehend und eine ähnliche Figur mit mittelalterlicher Haartracht, Tuch und Früchten, die über der Toreinfahrt des Alte-Leute-Heims in Buch seine Aufstellung gefunden hat und heute nicht mehr erhalten ist.[22] Die Proportionen dieser um 1907 zu datierenden Figuren sind, in Abhängigkeit vom Aufstellungsort, sehr verschieden von denen der Fortuna, auch ist die Gesamterscheinung der Fortuna gemäß ihrer Funktion klassischer und feierlicher, Grundkonzeption und Haltung sind allerdings durchaus vergleichbar.
Dass Ignatius Taschner trotz seiner vielfachen an die Stilform der Gotik angepassten Werke selbst die Renaissance und ihre Bedeutung für die deutsche Kunst schätzte, zeigt seine Mitgliedschaft im Münchner Dürerverein, einer 1885 von dem Bildhauer Georg Busch gegründeten Vereinigung von Akademiestudenten. Syrius Eberle gab hier Komponierabende zu christlichen Themen. Auch Georg Wrba war Mitglied. Die Verehrung für Dürer blieb bei Taschner auch über die Akademiezeit hinaus bestehen, wie die echten Dürerholzschnitte (Passion und Marienleben) an seinen heimischen Wänden belegten.
Zahlreiche architektonische sowie bildhauerische Motive des Stadthauses stehen demnach in der Tradition der Renaissance und so auch die Fortuna selbst in Bedeutung und Gestalt, das heißt Ponderation, Proportionen und Stil. Aus der Zeit der Renaissance stammen richtungsweisende frühe Rathausbauten mit Bildprogrammen, die den Staat und seine Ideale repräsentieren sollten. In Venedig konnte Hoffmann die Mitte des 16. Jahrhunderts errichtete Logetta del Campanile des Glockenturms auf dem Markusplatz sehen, deren Bildprogramm für die damalige Zeit neuartig war.[23]
Ludwig Hoffmann äußert sich in seinen Lebenserinnerungen ausführlich über den Markusplatz, den er bei seiner Italienreise 1885 besucht hatte.[24] Die Republik Venedig wird hier durch allegorische Gestalten repräsentiert, die mit dem Skulpturenprogramm des Stadthauses teilweise übereinstimmen. Der Bildhauer Jacopo Sansovino schuf als Sinnbild für die Stadt eine bronzene Figur der "Pax", des Friedens, die aber als zusätzliches Symbol das Füllhorn des Wohlstands trägt. Weitere in Nischen stehende Bronzefiguren stellen Minerva (für die Weisheit des Senats), Apollo (für die Harmonie der Regierung) und Merkur (für Wissenschaft und Beredsamkeit) dar. Diese Figuren befinden sich zum Großteil auch an der Vorderfront des Berliner Stadthauses.
Hoffmann besuchte zusammen mit seinem Schwiegervater 1898 Holland. Er berichtete: "Manch interessante Einzelheiten sah ich an alten Portalen und Giebeln, sehr lehrreich war ein Gang durch den großen breit angelegten königlichen Palast, das frühere Rathhaus von 1655".[25] Antonius Quellinus hatte auf dieses Rathaus auf den höchsten Giebel die Figur der "Pax" platziert, mit dem eigentlichen Attribut Ölzweig, als Zeichen für den Frieden, mit dem Caduceus - Stab des Merkur mit zwei Schlangen und dem Füllhorn - zu ihrem Füßen. Die Figur der Pax verkörperte hier gleichermaßen Friede, Handel und Wohlstand. Beim Berliner Stadthaus beschränkte man sich mit der Fortuna demgegenüber lediglich auf den Aspekt des erstrebenswerten Wohlstands.
Der Stil der Neorenaissance galt in seiner frühen Zeit seit ca. 1830 zunächst als Stil für bürgerlichen Bauten, wurde aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch für Staatsbauten beliebt und im Zuge des Historismus gewann er immer allgemeinere Züge. Ob Hoffmann selbst die Neorenaissance bewusst gerne für bürgerliche Bauten verwendete, oder ob er nur die Formensprache schätzte, bleibt hypothetisch. Zumindest handelt es sich um einen Baustil, der auch im 19. Jahrhundert gerne für Rathausbauten verwendet wurde.
Ein früherer wichtiger Vertreter des Bauens im Stil der Neorenaissance war Gottfried Semper. Er errichtete beispielsweise zusammen mit Karl von Hasemann zwischen 1871 und 1881 das Kunsthistorische Museum in Wien, verwendete hier ebenfalls das zentrale Motiv der Kuppel, die er mit der Kuppelfigur einer Pallas Athene als Beschützerin der Künste von dem Bildhauer Johann Bents bekrönen ließ. Der Münchner Architekt Gabriel von Seidl (1848-1913) war zwischen 1909 und 1913 ebenfalls mit einem Rathausbau beschäftigt, dem neuen Rathaus in Bremen, dass direkt an den alten spätgotischen- bzw. Renaissancebau angefügt wurde. Seidls Bau zeigt vielfach Anklänge an die deutsche Renaissance. Hoffmann war bei der Einweihung anwesend, nachdem von Seidl ihn in Berlin besucht hatte: "Das Äußere wächst vorzüglich mit dem alten Rathaus zusammen. Es hat an sich wunderschöne Teile, so der vordere Erker, die Portale und die meisten Skulpturen (...) Die Skulpturen auf dem Dach könnten etwas ruhiger sein."[26]
Die Kuppel des Alten Stadthauses ist von vielen Punkten der Berliner Innenstadt aus sichtbar, und die Wiederaufstellung der Fortuna mit ihrem wohlbedachten ruhigen Umriss gibt der Stadtsilhouette einen wichtigen Akzent zurück, der Wunsch nach Wohlstand für die Stadt verliert nie an Aktualität. Stadtbaurat Ludwig Hoffmann hatte immer wieder den Einklang zwischen Bau und Bauplastik an allen seinen Bauten angestrebt. Der Einklang hatte an dieser Stelle in den vergangenen fünfzig Jahren eine empfindliche Störung erfahren.
Anmerkungen
1. Zuletzt: Schäche, Stadthaus.
2. Ullrich (van den Driesch), Gutachten Berlin 1994.
3. Van den Driesch: Die Bedeutung der Gebäudeplastik.
4. Angaben in: Ullrich (wie Anm. 2), Landesarchiv LAB/Auß. Rep. 01-05 Nr. 4584, Bl. 134-135.
5. Thoma/Heilmeyer, Taschner.
6. Landesarchiv Berlin, Rep, 200, Acc. 3559, Nr. 11. Deutsche Tageszeitung vom 5. März 1911, S. 20. Zitat bei van den Driesch (wie Anrn. 3), S. 92 und 96.
7. Hoffmann notierte es am 4. August 1911 (Hoffmann, Lebenserinnerungen, S. 212).
8. Hoffmann (wie Anm. 7), z. B. Italienreise 1899, S. 139-141.
9. Neubauten, S. VII u. VIII.
10. Vgl. Hammerschmidt, Historismus, u. a. S. 381.
11. Vgl. u. a. Hansen, Stadthaus (Jahrbuch Landesarchiv), S. 75-101.
12. Hoffmann (wie Anm. 7), S. 92.
13. Hoffmann (wie Anin. 7), S. 93 (Reise nach Vincenza).
14. Hoffmann (wie Anm. 7), S. 164.
15. Zur Rolle Lessings: vgl. Kuhn, Lessing.
16. Krogemann, Kronprinzensilber.
17. Vgl. Ursel Berger: Ignatius Taschner als Architekturbildhauer in Berlin, in: Götz/Berger, Taschner, S. 217 ff. zur Entstehungsgeschichte, und van den Driesch (wie Anm. 3) zur Deutung.
18. Norbert Götz: Taschners Münchner Jahre, in: Götz/Berger (wie Anm. 17), S. 52.
19. Karnapp, "Friedensengel", S. 185-209.
20. Thoma/Heilmeyer (wie Anm. 5), S. 35.
21. Privatbesitz.
22. Thoma/Heilmeyer (wie Anm. 5), Abb. 85.
23. Vgl. Kaulbach, Der Friede auf dem Sockel, S. 46/47.
24. Hoffmann (wie Anm.7), S. 73.
25. Hoffmann (wie Anm. 7), S. 138.
26. Hoffmann (wie Anm. 7), S. 226.
Literatur
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Aus: "Mitteilungen" 3/2003
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