Der Richter'scher Zirkus vor dem Brandenburger Tor
Von Edith Krauß
Wer weiß noch, dass dicht neben der Stelle, wo sich heutzutage eine endlose Schlange von Schaulustigen - Berliner und Berlinbesucher - spiralförmig kreisend in die neue Glaskuppel des Reichstagsgebäudes hinaufwindet, einmal ein richtiger Zirkus stand? Auf alten Tiergartenplänen ist er eingezeichnet, wenn auch nicht gleich als solcher zu erkennen, wenn die Legende fehlt. Eine auffällige, etwas rätselhafte Figur findet sich rechts außerhalb vor dem Brandenburger Tor, mal als kreisrunde Fläche mit vier rundum angesetzten Quadraten, mal als breites schwarzes Kreuz, mal als eckig auslaufendes Oval dargestellt. Dort vor der Stadtmauer am östlichen Rande eines großen Exerzierplatzes stand Berlins erster fester Zirkusbau, ein hölzerner Rundbau, den 1821 der Berliner Zimmermeister Gustav Friedrich Richter mit königlicher Erlaubnis - aber wohl auf eigene Rechnung - auf diesem vom Fiskus gepachteten Grundstück errichtete.
Ein Stahlstich von 1832 aus einer "Sammlung in Stahl gestochener Ansichten" von "Berlin und seine[n] Umgebungen im neunzehnten Jahrhundert" hat uns sein Aussehen überliefert, der "Königlich Preußische Bibliothekar S.H. Spiker" eine Beschreibung dazu verfasst. Das Bild zeigt ein stattliches Gebäude, welches eine glaskuppelüberdachte Manege im Zentrum ahnen lässt und zwei von den vier Anbauten, einen davon als säulenflankierten Eingang. Biedermeierliches Publikum in größeren Gruppen belebt die Szene und legt den Gedanken nahe, dass dieser Ort bereits in jenen beschaulichen Zeiten eine Attraktion in Berlin war, ebenso beliebt und besucht wie die "Zelten" am westlichen Rande des Exerzierplatzes, deren Kaffee- und Biergärten sich unmittelbar am Spree-Ufer aufreihten.
Im Gegensatz zu den später innerhalb der Stadtgrenzen entstehenden Zirkusbauten war dieser nicht einem einzelnen namhaften Zirkus vorbehalten, sondern diente zunächst Kunstreitergesellschaften, dann vielerlei "wandernden" Schaustellern als Veranstaltungsort. Das ganze Jahr hindurch wurde hier ein buntes Programm geboten mit Kunstreitern, Seiltänzern, Dompteuren, auch Ausstellungen von Menagerien und Panoptika.
Der Erbauer Gustav Friedrich Richter fungierte zugleich als Leiter des neuen Unternehmens, schloss Verträge ab, koordinierte Termine und nannte sich fortan "Disponent des Thiergarten-Circus". Folgerichtig wurde der Zirkus von den Berlinern zunächst der "Richter'sche Zirkus" genannt, nach 1840 unter einem neuen Besitzer vorübergehend "Circus olympicus", schließlich nach seinem Standort "Zirkus vor dem Brandenburger Tor". Als 1842 in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem Bau des Raczynskischen Palais begonnen wurde, blieb der Zirkus dennoch bis 1846 in Betrieb. 1848 brannte er während der unruhigen Märztage endgültig ab, nachdem 1835 im Verlauf der sogenannten "Feuerwerksrevolution" ein Brandanschlag verhindert werden konnte. Noch als der sandige Exerzierplatz sich längst in den prächtigen Königsplatz verwandelt hatte, war auf einem Plan von 1870 das Rund der ehemaligen Zirkusarena im Randgebüsch zu erkennen.
Über diesen ältesten Zirkusbau Berlins sind die wichtigsten Fakten und Daten wiederholt im Rahmen berlingeschichtlicher Studien dargestellt worden. Zwei lagen mir vor: 1955 erwähnte ihn Irmgard Wirth in Stichworten im Band "Tiergarten" ihrer "Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin" und 1986 stellte ihn Hans-Werner Klünner sehr ausführlich in seiner Schrift "165 Jahre Zirkusstadt Berlin" dar, ein Beitrag zur 750-Jahrfeier der Stadt.
Wer sich genauer informieren möchte, findet in dieser "Chronologie der Zirkusbauten an der Spree" so der Untertitel - jede gewünschte Auskunft. Da mein Interesse - eine Materialsammlung über den Berliner Maler Gustav Richter - im Grunde mehr seinem Erbauer als dem Zirkus selber galt, war ich erstaunt, dass die Darstellungen in einem entscheidenden Punkt voneinander abweichen.
Während Irmgard Wirth ausdrücklich den Zimmermeister Gustav Friedrich Richter als "Vater des Malers Gustav R." bezeichnet, bestreitet H.-W. Klünner geradezu energisch diese Verwandtschaft. Der stets sehr gründlich recherchierende Berlinforscher hatte herausgefunden, dass im Sommer 1821 ein "Ratszimmermeister Johann Heinrich Richter, der in der Ziegelstraße 7 wohnte, sich bemüßigt [fühlte], in der Vossischen Zeitung' mitzuteilen, dass er nicht der Erbauer des Zirkus sei, sondern sein gleichnamiger Zunftgenosse."
Diese Namensgleichheit hätte in der Zirkusliteratur ständig zu Verwechslungen geführt, stellt Klünner fest und zitiert - ohne den Namen zu nennen - einen Zirkusschriftsteller, der noch "jüngst eine Legende" aus der Gleichnamigkeit "gezaubert" hätte, indem er behauptete: "Der Berliner Kunstmaler Gustav Richter lernte auf seinen Reisen die Pariser Zirkusse kennen. [ ... ] Richter berichtete seinem Sohn begeistert über seine Erlebnisse.
Sein Sohn, ein Baumeister, ergriff die Initiative und errichtete außerhalb der Stadt (vor dem Brandenburger Tor) einen Zirkusbau aus Holz, den er Circus Olympicus nannte. Er stand an der Stelle des heutigen Reichstagsgebäudes". Dazu Klünners Kommentar: "Wenn man nun weiß, dass der Maler Gustav Richter am 3. August 1823 in Berlin als Sohn des oben erwähnten Ratszimmermeisters Johann Richter geboren wurde, [ ... ] ist der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte schon genügend beleuchtet."
Woher wusste er das so genau? Richtig ist, dass der seinerzeit in der Berliner Gesellschaft hochgeschätzte Maler und Porträtist Gustav Ludwig Carl Richter am 3. August 1823 in Berlin geboren ist. So kann es jeder auf seiner Grabstelle auf dem Alten Sankt Matthäikirchhof in Schöneberg lesen, wo er seit 1884 begraben liegt. Die zweite Hälfte der Klünner'schen Aussage ist aber falsch. Der Maler Gustav Ludwig Carl Richter wurde tatsächlich als Sohn des "Zimrner-Stük-Meisters zu Berlin" Gustav Friedrich Richter geboren.
Das konnte man im Taufregister Jahrgang 1823, Seite 6/141 der Dorotheenstädtischen Kirche lesen, wo der "Disponent des Thiergarten-Circus" an anderer Stelle (Taufregister 1821) ebenfalls als Vater eingetragen war. Im Trauungsbuch Jahrgang 1822 der gleichen Kirchengemeinde bezeichnete sich Gustav Friedrich Richter als "Partikulier", im Totenbuch der evangelischen Luisenstadt Kirche in Berlin war neben seinem Todesdatum 11. April 1838 vermerkt "zuletzt wohnhaft im Circus vor dem Brandenb[urger] Tor".
Diese Daten kann man seit kurzem erst im Internet nachlesen, wo sie Bestandteil einer "Genealogie der Familien Beer/Meyerbeer/Richter" sind, die als Ergebnis privaten Forschens anhand der Familiendokumente von heutigen Nachfahren erstellt wurde. Mit diesen Internet-Seiten soll - nach eigener Aussage - am Beispiel "einer Berliner Familie jüdischer Herkunft die Geschichte und historische Bedeutung des jüdischen Bürgertums von den Emanzipationsbestrebungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts über die Assimilation des 19. Jahrhunderts bis hin zum Schicksal unter der NS-Diktatur für die Öffentlichkeit dokumentiert werden."
Das Internet war dem leider inzwischen verstorbenen Berlinforscher bei seiner Arbeit noch nicht zugänglich. Er hätte dort auch erfahren können, dass der Vater des Zirkuserbauers - der ja als Initiator des Baues bezeichnet wurde - Ludwig Carl Richter hieß, also ganz ähnlich wie sein Enkel. Leider ist sein Beruf nicht angegeben. Wenn er nun ebenfalls ein Kunstmaler gewesen wäre? Dann erschiene der Wahrheitsgehalt der oben zitierten Aussage in anderer "Beleuchtung". In seinem Bemühen, einen Irrtum aus der Welt zu schaffen, fiel Hans-Wemer Klünner einem neuen Irrtum zum Opfer. Was er sicher selbst am meisten bedauert hätte.
Noch einen weiteren Sachverhalt erhellen die genalogischen Fakten: In einer der akribisch zusammengestellten Beschreibungen des Zirkus in zeitgenössischen "Fremdenführern für Berlin" zwischen 1830 und 1847 heißt es u.a.: "Der Cattunweber Maus, der darin wohnt, führt die Aufsicht über das Gebäude." Nach der Familienchronik war dies ein Verwandter - die Frau des Zirkuserbauers und Mutter des Malers war eine geb. Maus - und der Zirkus somit ein Familienunternehmen.
Wer Internet-Auskünfte noch nicht als vollgültige Datenquelle für eine historische Forschung gelten lassen mag, der sei darauf hingewiesen, dass die hier benutzten Daten auch im Original nachgelesen werden können. Seit Januar 2001 befinden sich wesentliche Teile der privaten Hinterlassenschaft der Familien Beer/Meyerbeer, sowie der Familie Richter, des Schwiegersohns von Giacomo Meyerbeer, im Besitz der Hans-und-Luise-Richter-Stiftung im Stadtmuseum Berlin.
Zur Zeit wird noch an der Bestandsaufnahme gearbeitet. Der umfangreichste Teil des Nachlasses stammt aus dem Hause der Tochter Meyerbeers, Cornelie (1842-1922) und ihres Ehemannes, des Malers Gustav Richter (1823-1884), aus deren Ehe vier Söhne hervorgingen. Die Stiftung trägt den Namen des jüngsten Sohnes - und Enkels Giacomo Meyerbeers - Dr. Hans Richter (1876-1955) und seiner Frau Luise, geb. Kurschat (1891-1978) "zur Erinnerung an ihre Verdienste um die Bewahrung des künstlerischen und kulturgeschichtlich bedeutsamen Familienerbes in schwerer Zeit." Die gemeinsame Grabstelle dieser beiden Stifter befindet sich auf dem Friedhof Wannsee in der Lindenstraße. Wenn Familiennachlässe in öffentliche Hände übergehen, treten nicht selten überraschend neue Erkenntnisse zutage.
Benutzte Literatur
Hans-Werner Klünner: 165 Jahre Zirkusstadt Berlin, Edition Berlin, Berlin 1986.
Irmgard Wirth: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1955. Folkwin Wendland: Der Große Tiergarten in Berlin, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1993.
S. H. Spiker: Berlin und seine Umgebungen im neunzehnten Jahrhundert,Verlag von George Gropius, Berlin 1833, Fotomechanischer Neudruck Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1977.
Adolf Streckfuß: 500 Jahre Berliner Geschichte, Verlag von Albert Goldschmidt, Berlin 1900.
Architektenverein zu Berlin: Berlin und seine Bauten, Berlin 1877, Faksimile Ernst und Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften, Berlin 1984.
Internet:
www.meyerbeer.org/html/gen07/ [externer Link]
Aus: "Mitteilungen" 2/2003
Veranstaltungstermine
Studienreise04.10.2024 bis 06.10.2024
Dreitägige Studienreise nach Quedlinburg
12. Oktober 2024, 14:00 Uhr
Die Baugenossenschaft „Freie Scholle“