Sonderbeilage des Berliner Tagesspiegel am 9. November 2014 zum 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls

Berlin hat seine beste Zeit noch vor sich
1995 läutete Christos Reichstagsverhüllung den Wiederaufbau Berlins als wiedervereinigter Hauptstadt ein. Nach dem Mauerfall bedurfte es zu Sanierung und Konsolidierung Berlins ein Vierteljahrhundert: im Mittelpunkt der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin. Das bauliche und logistische Großprojekt von 10 Mrd. Euro wurde in Zeit und Kosten bewältigt, der Reichstag als neuer Bundestag zum Höhepunkt, die Kuppel zum Symbol der Berliner Republik. Die anfängliche Sorge, aus dem unschuldigen Bonn in eine Stadt mit Vergangenheit zu ziehen, wich dem Interesse, das Berlins geschichtsträchtige Bauten und Denkmäler wecken. Der Wiederaufbau, mit preußischen Fluchtlinien und Traufhöhen in geordneten Bahnen, ließ in „kritischer Rekonstruktion“ das „steinerne Berlin“ wiederauferstehen. Die historische Mitte erhält mit dem Schloss ihren Fluchtpunkt zurück.

Nicht nur Preußen sondern auch Amerika

Heute lenkt Chipperfields Säulenwald roher Baumstämme in der Neuen Nationalgalerie den Blick von der historischen Mitte auf das Kulturforum der Moderne. Das spektakuläre Kunstprojekt ist der Auftakt zur Sanierung von Mies van der Rohes Meisterwerk moderner Architektur und weckt Erinnerungen an ein Berlin, das nicht nur Preußen, sondern auch Amerika war, eine mutige und visionäre Pionier- und Gründerstadt. Mut und Vision von Architekten und Stadtplanern werden heute wieder gebraucht angesichts des unerwartet raschen Wachstums von Bevölkerung und Wirtschaft. Es ist wieder Phantasie gefragt und Raum für das Neue, das die Stadt bewegt.

Alles ist möglich

Der Mauerfall beweist: Alles ist möglich. Die Stadt ist nach allen Höhen und Tiefen nicht am Ende ihrer Geschichte: Berlin hat seine beste Zeit noch vor sich. Davon sind jedenfalls die überzeugt, die in großer Zahl in die Stadt strömen, um ihr Glück zu suchen. Oder Rettung wie die Glaubensflüchtlinge. Mit 250 000 zusätzlichen Einwohnern im Jahr 2030 und jährlich 10 000 neuen Wohnungen rechnet der Berliner Senat. Dass der Vorrang der Binnenentwicklung auf Grenzen stößt, zeigt nicht nur der Volksentscheid zur Bebauung des Tempelhofer Feldes. Kleingärtner kämpfen um ihre Biotope, Eingeborene protestieren gegen Zuwanderer und alte Nachbarn gegen neue. Es ist nicht nur Eigensinn, sondern auch die Sorge um den Verlust der Lebensqualität einer Großstadt, die wie keine andere mit Grün, Wasser und Spielraum gesegnet ist. Auch Schrebergärten gehören zu Berlin wie Urban Gardening, Mauerpark und Tempelhofer Feld.

Auf zwei Beinen gehen

Das rasche Wachstum zwingt auf zwei Beinen zu gehen, dem Standbein innerer Verdichtung auf Baulücken und Brachen sowie dem Spielbein äußerer Stadterweiterung. Das Graubrot der Stadt ist auch künftig der bewährte Berliner Block. Aber selbst innerhalb von Straßenflucht und Traufhöhe ist Innovation möglich, wie das BIGyard am Prenzlauer Berg beweist. Eine internationale Jury verlieh Zanderroth Architekten den Architekturpreis Berlin für ein Baugruppenprojekt, das in schwieriger Baulücke 45 Familien unterbringt, obendrauf ein gemeinsamer Dachgarten. Zur Nachverdichtung rücken vertikale Wohnformen in den Blick wie das im Wortsinne verrückte Alex-Hochhaus von Frank O. Gehry. Wohnhochhäuser sparen und bieten Platz, bereichern das Stadtbild und bilden an Parks und Ufern Stadträume neuer Dimension.

Berliner Mischung statt Schlafstädte

Bezahlbarer Wohnraum für viele wirft die Frage nach neuen Siedlungen auf. Müssen es Schlafstädte sein? Warum nicht moderne urbane Stadtquartiere in sozialer und funktionaler Mischung? Den gemischten Quartieren der Gründerzeit, einst im Westen vom Kahlschlag bedroht, im Osten vom Verfall, drohen heute wegen ihrer Beliebtheit steigende Mieten. Es ist die „Berliner Mischung“, die aus ihnen soziale und kulturelle Schmelztiegel macht und Brutstätten neuer innovativer Arbeitsplätze.

Von der Elektropols zur Digitopolis

In den Gründerzeitquartieren hat sich eine neue Gründergeneration aufgemacht aus Berlin die „Hauptstadt der Digitalwirtschaft“ (Cornelia Yzer) zu machen. Einst als „Elektropolis“ größte Industriestadt des Kontinents schreibt Berlin jetzt an dem Kapitel „Digitopolis“. In Forschung, Industrie und Netzwirtschaft, in Universitäten, technologischen Zukunftsorten und Internet-Startups erlebt die Stadt eine Renaissance als Wirtschaftsmetropole. Eine individualisierte, zugleich offen kommunikative Arbeitswelt stellt mit den krawattenfreien Zonen ihrer Coworking Spaces auch der Architektur neue Aufgaben wie Axel Springers Medienzentrale für das Internetzeitalter von Rem Kohlhaas: Ein großer Berliner Block öffnet sich – Vorhang auf! - mit einer Glasfront, die den Blick frei gibt auf eine in Terrassen ansteigende quirlige Arbeits- und Kommunikationslandschaft.

Motor als Stadt des Ostens

Deutschlands größte Stadt und Hauptstadt muss nach langem Schwächeln auch als „Stadt des Ostens“ (Karl Scheffler) wieder zum Motor der Entwicklung werden, zum magnetischen Kraftzentrum Ostdeutschlands und mit dem neuen Großflughafen zur Dienstleistungsmetropole Mittel- und Osteuropas. Mit der Bedeutung Berlins als Ost-West-Metropole wird der wirtschaftliche Druck auf die großen Verkehrsknoten der Innenstadt an Bahnhof Zoo, Alexanderplatz, Potsdamer Platz und Hauptbahnhof einen unaufhaltsamen Drang in die Höhe erzeugen.

Aufstrebende Ost-West-Metropole

Hochhaus-Citys sind die Marktplätze der globalisierten Welt. Hier wird wie eh und je der Austausch von Waren, Geld und Ideen gesucht, die räumliche Nähe, die Erregung und Anregung persönlicher Kommunikation. Das bietet nur hohe bauliche Dichte. Nach dem Wiederaufbau der Berliner Mitte erlebt jetzt auch die City West ihre Renaissance mit einem neuen Stadttor aus Doppeltürmen in Stein und Glas, dem Waldorf Astoria und dem Upper West. Citys sind dynamische Orte. Sie machen Stadtplaner zu Regisseuren bewegter Bilder. Anders als München, Köln, Hamburg oder Leipzig mit ihren schützenswerten historischen Stadtsilhouetten hat die Pionier- und Gründerstadt Berlin die Freiheit, mit mutigen Architektur-Ikonen eine moderne optimistische Skyline in den Himmel zu zeichnen.

Florian Mausbach
Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung 1995-2009
Berlin 9. November 2014

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