Unser 2010 verstorbenes Mitglied Georg Holmsten veröffentlichte 1946 unter dem Titel „Berliner Miniaturen - Großstadtmelodie" eine Liebeserklärung an die Stadt Berlin. Sie beginnt mit dem Einleitungsatz: „Das ist das große, das größte Wunder: dass wir leben, wieder leben, noch leben!" Zum Kurfürstendamm kamen ihm folgende Gedanken:


Kurfürstendamm kurz danach

Sie stehen in langer, gewundener Kette, eine halbe, eine ganze Stunde lang. Und wer sie sieht, der denkt vielleicht, sie warteten auf etwas sehr Wichtiges, Unentbehrliches, auf hundert Gramm Margarine zum Beispiel oder zwei Heringe. Aber nein, sie warten nur auf eine Kinokarte. Eine Kinokarte, das sind zwei Stunden Zerstreuung, Erregung, Nicht-mehr-bei-sich-selbst-Sein. Viele von ihnen haben viel zu zerstreuen, zu vergessen, zu betäuben. Nach fasst sechs Jahren Krieg et cetera...

Panem et circenses, Brot und Spiele! Das Panem gibt es nebenan, zwischen den Stucksäulen der Konditorei, in Gestalt von drei Scheiben geröstetem Weißbrot, bedeckt mit einer geheimnisvollen braunen Masse, die entfernt nach dem schmeckt, was man früher mit dem Fremdwort Marmelade bezeichnete. Dazu gibt es eine schneeweiße Pagode „Schlagcreme". Sie ist so federleicht, dass man sie kaum auf dem Löffel spürt, und zergeht auf der Zunge so schnell und spurlos wie der Kuss einer Frau, die man nicht mehr liebt. Am Nebentisch höre ich einen würdigen Herrn mit Spitzbart dozieren, es handele sich um Kolophonium. Ich ziehe mich beschämt in meine Unwissenheit zurück und beschließe, im Brockhaus nachzusehen, was Kolophonium - oder schreibt man es Collophonium? - überhaupt ist.

Drei Tische weiter setzt eine Dame - oder ist es eine Dame, die über drei Tische hinweg vernehmlich spricht, keine Dame mehr? - dem Kellner temperamentvoll auseinander, sie könne für hundert Gramm Fleischmarken mehr verlangen als nur einen Kosthappen. Tja, sogar am Kurfürstendamm sind die Gäste nicht mehr vornehm.

Vornehm sind nur die Kellner. Meiner zum Beispiel, der meine Zeche von acht auf zehn Mark abrundet, indem er sich nach einem kurzen Zucken des Oberkörpers - Verbeugung kann man es kaum nennen - mit einem Zehnmarkschein davontrollt. Da der Ober so würdig aussieht wie ein Lebensversicherungsdirektor oder ein Überseedampferkapitän und ich in einem richtigen Klubsessel unter Kristalllüstern sitze, wage ich nicht, ihn zurückzurufen. Mir fällt ein, dass ein paar Straßenecken weiter ein Freund von mir - Bankbeamter zwangsweise a. D. - für die gleichen zwei Mark, die der majestätische Ober so nonchalant einsteckte, über drei Stunden lang in einer Ruine Mauersteine abklopfen muss. Ungerechte Welt...

Aus meiner elenden finanziellen Tüftelei reißt mich der Anblick einer Dame, die mit mir das Café verlässt, „eine Figur, um Götter aus dem Himmel zu reißen" würde Gautier, der alte französische Schwärmer und Frauenverehrer, sagen. Und ähnliche Figuren spazieren viele den Kurfürstendamm entlang. Sie tun es ausgiebig, wohl berechnet langsam, wippenden Schrittes. Sie sind Künstlerinnen des Ganges und des Selbstporträts, der Selbstbemalung mit Lippenrot in allen Tönen von karmin bis lila und Puder von beige-obscur bis kreideweiß. Sie schauen nicht weg, wenn ein Mann sie scharf ansieht, im Gegenteil, Männer sind knapp geworden, das lehren die Statistik und die Erfahrung.

Sie haben sich gut gehalten, die süßen Mädchen vom Kurfürstendamm. Sie sind vielleicht etwas schlanker geworden, etwas leichter an Körpergewicht und Moral. Wenn man sehr genau hinguckt - und die Männer tun es nur zu gern -, sieht man, dass ihre Strümpfe an ein paar Stellen gestopft sind und dass der apart gestreifte Mantel früher eine Diwandecke war. Aber sonst spürt man ihnen die sechs Jahre Krieg und Kellerleben nicht an. Sie haben immer noch ihre wippende Grazie, ein vieldeutiges Lächeln, einen dauerwellenbewegten Bubikopf und über allem einen Hut, nein, eine Andeutung, eine Möglichkeit von Hut in Form und Farbe einer tropischen Wunderpflanze.

Man staunt, dass ihnen dieses zarte Gebilde beim Swing nicht vom Kopfe fällt. Ja, der Swing, das ist wieder die große Passion der süßen Mädchen vom Kurfürstendamm. Sie tanzen ihn auf eine fanatisch bewegte, sämtliche Glieder durchrüttelnde, fast verbotene Art. Und besonders gern tanzen sie ihn mit einem der höflichen, stets mit Zigaretten gesegneten Herren in Uniform aus London oder Liverpool, New York oder Philadelphia. Das Tanzen und das Spazierengehen, allein oder zu zweit, das sind die beiden Seligkeiten der süßen Mädchen. Man vergisst ganz, dass die meisten von ihnen nebenher noch so etwas wie einen Beruf, eine Arbeit haben.
Wer mit solch einem süßen Mädchen am Kurfürstendamm promeniert, der vergisst, übersieht manches. Der übersieht, dass die meisten Häuser nur noch ausgehöhlte Ruinen sind. Nur wenn er allein geht, fällt ihm dies noch manchmal auf. Und voll Wehmut denkt er der Stunden, die er einst zwischen den jetzt ausgebrannten Mauern verplauderte, verschwelgte, verbummelte.

Bis ihn plötzlich das en passant zugeflüsterte Angebot einer vorbeistolzierenden Dame aus seiner Träumerei herausreißt: „Hast du etwas Zeit, Darling?" Auch solche Damen wandeln den Kurfürstendamm auf und ab, unermüdlich bereit zum Spenden von Genüssen. Aber ihr ambulantes Gewerbe scheint schlecht zu gehen in diese fett- und männerarmen Zeit. Die illegale Konkurrenz ist zu groß.
Ganz abgesehen von den Männern, die für weibliche Reize nichts übrig haben. Sie spazieren Arm in Arm den Kurfürstendamm hinunter. „Er" sieht sehr forsch und männlich aus, und auch „sie" ist ein Mann. Aber einer mit langen Haaren, weicher, breiter Krawatte und einem Goldreif um das Handgelenk. „Sie" lächelt geziert, als „er" ihre Hand streichelt und etwas Verliebtes flüstert. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben und dürfen zeigen, dass sie etwas füreinander übrig haben. Sie sind nun einmal anders als die andern...
Als plötzlich ein Sprühregen einsetzt, fangen die reizenden Damen an, schneller zu trippeln. Auch die mit mehr oder weniger Geschäften - es sind auch faule darunter - belasteten Herren mit Aktenmappe beeilen sich, um noch einen Platz in einem Café zu finden. In einem jener Cafés, wo sich die Magneten der Erotik und die Magnaten des Schwarzen Marktes und diejenigen zusammenfinden, die es vorziehen, sich auf legale Art durchs Leben zu schlagen. Die Dämmerung bricht herein, die ideale Zeit für melancholische Erinnerungen an jene Zeit, als der Kurfürstendamm noch im Sprühglanz der Lichtreklame strahlte und ein lebensgieriges Gewoge von Menschen sich wie ein riesiger Tausendfüßler über ihn bewegte. Irgendwoher hört man die abgerissenen Klänge einer Jazzkapelle. Der Menschenstrom reißt nicht ab. Der Kurfürstendamm lebt, lebt weiter, lebt wieder. Ohne Lichterglanz und Alkohol. Ohne Austern und Luxuslimousinen . Trotz Ruinen und Lebensmittelkarten. Der Kurfürstendamm lebt, lebt sein zweifelhaftes, belangloses, verführerisches und doch aus Berlin nicht wegzudenkendes Leben.