Am Lessing-Denkmal im Berliner Tiergarten
Von Edith Krauß

"lhre Lennéstraße! [...] Aber was haben Sie da groß?
Sie haben den Lessing ganz und den Goethe halb."
Theodor Fontane "Der Stechlin"

1977, bei den Vorarbeiten zu seinem Buch über den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, erhält der Ostberliner Journalist Heinz Knobloch die Sondererlaubnis zum Besuch des Mendelssohn-Archivs in Westberlin. Er nutzt die Gelegenheit - "...wann, wenn nicht jetzt, solange das Visum reicht?" - um am Rande des Tiergartens das Lessing-Denkmal aufzusuchen, das ein Portraits-Medaillon Mendelssohns am Sockel aufweist. "Es ist eine Weltreise", stellt er fest, obwohl es "im Grunde ein Fußweg", ein Spaziergang wäre. Denn er muss den vorgeschriebenen Grenzübergang benutzen. Seine Gedanken und Beobachtungen dabei sind für die Leser auf beiden Seiten der wiedervereinten Stadt heute - mehr als fünfundzwanzig Jahre später - höchst lesens- und nachdenkenswert.

Selbstverständlichkeiten des damaligen Berliner Alltags festgehalten zu haben, ist ein bleibendes Verdienst des kürzlich verstorbenen Autors, das mit der Zeit immer wertvoller werden wird. Viele "Normalitäten" jener Berliner Mauerjahre bedürften für Nachgeborene schon jetzt einer Erklärung, was aber nicht zu bedauern ist: "Wer nun von der anderen Richtung her ... kommt, ... der denkt mancherlei und nicht ausschließlich an Lessing. Denn auf einmal steht der Mensch vor seiner eigenen Grenze. Es ist seine Grenze. In mehrfacher Hinsicht. Als seine Staatsgrenze ist sie weiß und glatt und zweimal so hoch wie er. Noch nie hat er sie so nah gesehn. So also sieht sie aus. ... Das ist die Scheidewand, die sehr hart und säuberlich zwei Gesellschaftsordnungen trennt, eine elementare Teilung."

Knobloch umrundet das Denkmal, stellt fest: " Unbeschädigt wie sein Werk ist Lessing durch den Krieg gekommen." Er bedauert, " dass die drei Portraits dahin sind", denn: "Es gibt keine Abbildung der Medaillons." Aber die allegorischen Sockelfiguren sind erhalten geblieben, lebensgroße Jünglingsgestalten, Genien der Kritik und der Humanität. Und im Vordergrund die Tafel mit der "Ringparabel", Nathans eindringliche Worte, auf die sich die Humanität stützt. "Der sich reich belohnt fühlende Mensch" notiert und fotografiert. Auch "die leere Stelle, an der einst Mendelssohns Gesicht den Betrachter zum Nachdenken reizte; was Berlin einmal war."

Als das fertige Buch 1979 im Osten, 1982 in Lizenzausgabe im Westen erscheint, findet es in beiden Stadthälften aufmerksame Leser und macht den Autor mauerübergreifend bekannt. Die Westberliner Leserin - im Besitz der zweiten Auflage 1987 - rätselt jedoch an der Bildunterschrift zur S. 257 mit einer Abbildung des Lessing-Denkmals: "Fotografiert von Heinz Knobloch 1977. Zehn Jahre später sucht der Spaziergänger dort vergeblich." Wie das? Nie hatte die passionierte Stadtwanderin im Tiergarten das Fehlen des Denkmals bemerkt! Sollte es zwischenzeitlich, infolge einer spektakulären Besetzung des Lenné-Dreiecks durch selbsternannte "Autonome", zur Sicherung, bzw. Restaurierung entfernt gewesen sein?

Heute, im Sommer 2003 - wiederum gut fünfzehn Jahre später - ist das Denkmal jedenfalls immer noch an der Stelle zu finden, wo es 1890 aufgestellt wurde. Sogar die Portrait-Medaillons sind da und wollen erkannt sein. Welcher ist Moses Mendelssohn, welcher Friedrich Nicolai? Wen stellt der zopfige Offizier dar? Vielleicht den "Major von Tellheim" aus Lessings "Minna von Barnhelm"? "Ewald von Meist" liest man bei Knobloch und erinnert sich dunkel an einen Dichter-Offizier der Romantik. Wie gut, wenn jemand vorangeht, der sich informiert hat!

Die Veränderungen, die im letzten Jahrzehnt rundum vor sich gegangen sind, haben das Denkmal aus dem Mauerschatten im "unübersichtlichen Urwald" des "entlegensten Teils" des Tiergartens, wo man es damals suchen musste, an den Rand einer modernen, himmelstürmenden gesamtberliner Mitte gestellt. Schon ist ein Hochhauskomplex als neues Gegenüber emporgewachsen, das Beisheim-Center - "eine Stadt in der Stadt" - gegen das sich der marmorne Lessing "Drei Meter hoch als Statue auf drei Meter hohem Sockel" wird behaupten müssen. Aber noch ist die Form des neuen Lenné-Dreiecks im Werden. Weder die gewaltige Untertunnelung für mehrere übereinanderliegende Verkehrsadern am Potsdamer Platz, noch der geplante "Henriette-Herz-Park" haben schon endgültig Gestalt angenommen. Doch ist bereits sicher, die alte Lennéstraße wird dann kaum "archäologisch noch erfassbar" sein, wie Heinz Knobloch es schon bei seinem ersten Besuch feststellte: "Die Häuser Lennéstraße 6/7, denen gegenüber das Denkmal errichtet wurde, sind mitsamt der ganzen Straße vom Erdboden verschwunden." Wird das Lenné-Dreieck auf künftigen Stadtplänen überhaupt noch in seiner charakteristischen Form zu erkennen sein?

Spätestens jetzt sollte die Verbindung zu dem Fontane-Zitat hergestellt werden, das diese Ortsbeschreibung einleitet. In der Lennéstraße 6 wohnte zu Fontanes Zeit der Großkaufmann Theodor Grosser mit seiner Familie. Eine seiner Töchter war "die schöne Constanze" Stoeckhardt, die von der ganzen Familie Fontane beinahe schwärmerisch verehrt wurde. Fontane hatte diese gastliche Familie während seiner "Sommerfrischen" im Riesengebirge kennengelernt, wo der "Kupferminenkönig" eine Sommervilla besaß. In Fontanes "Briefen an Georg Friedlaender", den Schmiedeberger Amtsrichter, kann man nachlesen, mit welchem Interesse beide Briefpartner an den Schicksalen dieser Großfamilie Anteil nahmen: Von Kindtaufen, Hochzeiten, Todesfällen wird berichtet.

In der Briefausgabe von 1954 findet sich auch die Vermutung des Herausgebers Kurt Schreinert (Anm. S. 356), dass die stetig Liebhaber vorübergehend eine Wohnung in der Lennéstraße beziehen und schildert den Blick aus dem Fenster: "Aber Häuser und Menschen in der Lennéstraße ! Da hätt ich mir freilich einen anderen Stadtteil und vor allem ein anderes Visavis suchen müssen. Alles ist so still und verkehrslos hier, als ob es eine Privatstraße wäre mit einem Schlagbaum rechts und links. [...] Im Übrigen wird sich schon was finden, das der Betrachtung aus der Vogelperspektive wert wäre. Das an der Ecke da, das muss der Schneckenberg sein - Erinnerung aus meinen Collégetagen her -, und wenn ich Glück habe, seh ich auch noch ein Stück von dem Schaperschen Goethe. Wahrhaftig, da blitzt so was zwischen den Bäumen". Was der Zivilingenieur Gordon-Leslie nicht sieht, ist das Lessing-Denkmal, denn Fontanes Roman entstand 1884/85, und da gab es das Denkmal noch nicht. Wieder ein kleines Beispiel für die oft bewunderte Stimmigkeit Fontanescher Romane.

Im Haus Lennéstraße 6 war die Familie Fontane des öfteren zu Gast. Vielleicht auch an jenem 14. Oktober 1890 als mit großer Feierlichkeit das Lessing-Denkmal eingeweiht wurde? "Da war die Lennéstraße voller Jubelgäste," schreibt Heinz Knobloch, der dazu die zeitgenössischen Zeitungsberichte nachgelesen haben wird. Fontane notiert in seinem Tagebuch 1890: Im Oktober wird das Lessingdenkmal enthüllt; wir sind zugegen und freuen uns der geschmackvoll arrangierten Szene." Die Fontanes waren also mit unter den "Jubelgästen". Möglicherweise auf persönliche Einladung von Carl Robert Lessing, dem Haupteigentümer der "Vossischen Zeitung", für die Fontane damals noch seine Theaterkritiken schrieb.

Da wird ihn der Bronzegenius der Kritik auf der Rückseite des Denkmals - halb Engel, halb Teufel, die Geißel in der einen, ein abgezogenes Fell in der anderen Hand, neben sich die Eule der Weisheit - wohl ganz besonders interessiert haben! Noch einmal ist der Name "Lessing" im Zusammenhang mit dem Denkmal zu nennen: Der Bildhauer, der aus dem Wettbewerb um das Berliner Lessing-Denkmal siegreich mit dem 1. Preis hervorgegangen war, hieß Otto Lessing und war mit den beiden anderen Lessings - dem Dichter und dem Zeitungsverleger - weitläufig verwandt.

Übrigens hatte sich Theodor Fontane zur Feier des Tages besonders festlich gekleidet; am schwarzen Frack fehlten auch seine bescheidenen Ehrenzeichen* nicht. Woher man das so genau weiß? Unter den eingeladenen Künstlern war der Maler und Grafiker Fritz Werner, den das festliche Geschehen offenbar weniger interessierte als die stattliche Erscheinung des Dichters. Er fertigte an Ort und Stelle eine Bleistiftzeichnung an, auf deren Rückseite er sogar die genaue Körpergröße Theodor Fontanes notierte: 183 cm. Wer hätt's gewusst?

*Fontanes Orden: 1867 (18. Jan.) Preußischer Kronenorden IV: Klasse 1871 (Anf. April)
Ritterkreuz der Wendischen Krone (vom Großherzog v. Mecklenburg) 1888 (10. Dez.) das Ritterkreuz des Hohenzollern'schen Hausordens.

 

Literatur

  • Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin, Verlag - Das Arsenal, 2. Aufl. 1987
  • Kurt Schreinert, Theodor Fontane - Briefe an Georg Friedlaender, Quelle & Meyer, Heidelberg 1954 (mit Abb. der Zeichnung Fritz Werners)
  • Theodor Fontane, Der Stechlin, NFA, Bd. VIII, München 1965 Theodor Fontane, Cécile, NFA, Bd. IV, München 1959
  • Theodor Fontane, Tagebücher Bd. 11, GBA Aufbau-Verlag Berlin 1994
  • Christian Grawe, Fontane-Chronik, Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 1998

Aus: "Mitteilungen" 4/2003