50 Jahre Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V. 1949 bis 1999
Von Gerhild H. M. Komander
Am 1. November 1949 unterzeichnete der Oberbürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, das Zulassungsschreiben des Nachbarschaftsheimes Schöneberg e. V. als "nichtpolitische Organisation" im Bereich von Groß-Berlin.[1] Hervorgegangen war der Verein aus der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Frauen", die sich im April 1948 gebildet hatte, um vornehmlich der großen Not alleinstehender Mütter und kinderreicher Mütter auf dem Weg der Selbsthilfe, in Form einer organisierten Nachbarschaftshilfe entgegenzutreten.
Die Geschäftsführerin Ruth Eberhardt arbeitete mit einem aus drei Frauen bestehenden Ausschuß zusammen. Alle Frauen, soviel ist den lückenhaft bekannten Biographien zu entnehmen, hatten beruflich mit Wohlfahrt und Fürsorge zu tun: Irma Hoffmann, Mitglied der Baptisten-Gemeinde Schöneberg, Charlotte Stolzenhayn, Fürsorgerin der Inneren Mission, Gertrud Schwanitz, Katholikin, tätig im Sozialamt. Ruth Eberhardt war in Einrichtungen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses und des Reichsmütterdienstes beschäftigt gewesen.
Mit der Billigung des "Office of Military Government Berlin Sector - Public Welfare Branch" betrieben diese Frauen verschiedener christlicher Konfessionen zwei Nähstuben, denn die mangelhafte Bekleidung gerade der Kinder gehörte zu den größten Sorgen. Frauen und Kinder stellten gemeinschaftlich Kleidung her und unterstützten sich in Belangen des täglichen Lebens.
Die Geschäftsführerin erbat finanzielle Unterstützung von der amerikanischen Militärregierung. Der Bitte wurde aus zwei Gründen entsprochen: Verantwortung für die existentielle Not der deutschen Bevölkerung und das Bestreben zur Umerziehung und Neuorientierung der politisch verunsicherten Bürger. Die Amerikaner hielten den Nationalsozialismus nicht für den "Ausdruck eines besonderen, tief verwurzelten deutschen Nationalcharakters".[2]
Die Mehrheit glaubte, daß die Menschen das Produkt ihrer Erziehung seien, und hielt deshalb Maßnahmen zur Umerziehung der deutschen Bevölkerung für Erfolg versprechend. Mit der einsetzenden Entfremdung zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion wandte sich die amerikanische Militärregierung der deutschen Bevölkerung zu, um die demokratischen Traditionen Deutschlands zu stärken und unterstützte gezielt Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik.
Mit großem ehrenamtlichen Engagement der Mitglieder, den privaten Spenden und offiziellen Zuwendungen wurde die Tätigkeit der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Frauen" ausgedehnt. Im Winter 1948 zählten die Beschäftigung von arbeitslosen Jugendlichen, die Schaffung von ruhiger Arbeitsmöglichkeit für Geistesarbeiter, eine offene Tür für die Kinder der Nachbarschaft, die Sorge für alte einsame Menschen und die kulturelle Betreuung der Nachbarschaft dazu. Es entstand der Plan, die Arbeit im erweiterten Rahmen eines Nachbarschaftsheimes fortzuführen, die vom Bezirksbürgermeister von Schöneberg unterstützt wurde.
"Die Bezirksverwaltung würde es begrüßen," schrieb Bürgermeister Wendland im April 1949 an die Abteilung Public Welfare, "wenn diese Vereinigung, die sich soziale Zwecke zum Ziel gesetzt hat, von amerikanischer Seite unterstützt würde und ihr aus privaten amerikanischen Quellen Mittel zuflössen, wie dies in anderen Bezirken schon der Fall ist. (...) Eine besonders dringende Aufgabe, die sich der Verein stellen könnte, wäre die Betreuung unserer 18.000 alten Menschen, die zu etwa 20% alleinstehend sind. (...) Den Gedanken der Nachbarschaftsheime, welche in anderen Ländern, aber auch in Berlin schon recht günstige Ergebnisse aufzuweisen haben, hält der Bezirk grundsätzlich für begrüßens- und unterstützungswert."[3]
In den Jahren von 1947 bis 1950 entstanden in Deutschland eine Reihe von Nachbarschaftsheimen. Die Idee war keineswegs neu, das Heim in Schöneberg nicht das erste, aber eines der wenigen, das von Deutschen gegründet wurde. Wilmer Froistad, Leiter der Abteilung "Public Welfare" von Oktober 1947 bis September 1949, umschrieb die Aufgaben der Nachbarschaftsheime: Neben Wohlfahrt und Beratung sollten Jugendgruppen, Diskussionsrunden und Fortbildungen für Erwachsene, handwerkliche Hilfe bei Kleidungs- und Möbelreparaturen unterhalten werden.
Die Heime sollten apolitisch und überkonfessionell arbeiten und binnen zwei bis drei Jahren finanziell unabhängig von amerikanischer Unterstützung funktionieren. Um die Aktivitäten der Nachbarschaftsheime als Beitrag zur Verbreitung der amerikanischen Vorstellungen von demokratischer Diskussion und Gemeinwesenarbeit zu gewinnen, wollte Froistad neben den beteiligten deutschen Ehrenamtlichen auch amerikanische Vertreter im Vorstand und Arbeitsausschuß eines jeden Nachbarschaftsheimes wissen.[4]
Die Satzung des Vereins "Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V." führt als Zweck an, "soziale Arbeit auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe" zu leisten. "Einrichtung und Unterhaltung einer Kindertagesstätte, einer Nähstube, einer Bücherei und anderer in den Rahmen eines Nachbarschaftsheimes passenden Einrichtungen sind vorgesehen. Außerdem soll das Heim Angehörigen der sozialen und verwandten Berufe zu Erfahrungsaustausch und Fortbildung zur Verfügung stehen. Die Aufgaben sind stets im Geiste der Nächstenliebe und Toleranz durchzuführen."[5]
Die Gründerinnen knüpften an die in England im 19. Jahrhundert entwickelten "settlements" an, Niederlassungen von gebildeten Bürgern in den Slums von London, deren Ziel es gewesen war, in einem gemeinsamen Leben von Gebildeten und Ungebildeten, von Armen und Wohlhabenden, die Armen zu bilden und zu erziehen, den Gebildeten Einsicht in die Lebensumstände und Belange der armen Bevölkerung zu geben. Eine ähnliche Tradition war in Deutschland durch die Gleichschaltung aller entsprechenden Institutionen durch die nationalsozialistische Regierung abgebrochen worden.
Als das Nachbarschaftsheim in Schöneberg gegründet wurde, bestanden bereits gleiche Einrichtungen in Zehlendorf, der "Mittelhof", und in Neukölln. Vermutlich war die Initiative von Margarete von der Decken ausgegangen, die als Absolventin der Sozialen Frauenschule der Inneren Mission seit 1909 in der Wohlfahrtspflege tätig gewesen war und vom 1. Juli 1946 an das Amt der Sozialstadträtin in Schöneberg bekleidete.
Als erste Vorsitzende der "Arbeitsgemeinschaft für freie und öffentliche Wohlfahrtspflege im amerikanischen Sektor" verfügte Frau von der Decken über die notwendigen Kontakte, um Menschen aus der freien und öffentlichen sozialen Arbeit für den Betrieb eines Nachbarschaftsheimes zu gewinnen.[6] Weiterhin waren an der Gründung des Nachbarschaftsheimes Schöneberg beteiligt: Gertrud Schwanitz, Irma Hoffmann und Charlotte Stolzenhayn.
Das Engagement anderer Frauen kann im einzelnen nicht mehr rekonstruiert werden, da die Quellen nur lückenhaft Auskunft geben, viele der Zeitgenossinnen verstorben sind, ohne ihre Erinnerungen festgehalten zu haben. Käthe Rawiel, 1955 bis 1971 Vorstandvorsitzende des Vereins, nannte in einem Interview Elisabeth von Harnack, Stefanie Hirt, Marie-Elisabeth Lüders, Käthe Mende, Irmgard Schuchardt und die Amerikanerin Margaret Day als Teilnehmerinnen an den Gesprächen des Gründungskomitees.[7]
Dem ersten Vorstand gehörten von der Decken, Hoffmann, Schuchardt und der Pfarrer Heinrich Tomberge an. Die Vereinssatzung des Schöneberger Nachbarschaftsheimes bestimmte die Pflichten der Mitglieder "in der selbstlosen Eingabe an die Aufgaben des Vereins". Vergütet werden sollte die Arbeit der Mitglieder "in der Regel" nicht. Lediglich "der jeweilige besoldete Leiter des Nachbarschaftsheimes, der Mitglied des Arbeitsausschusses sein muß," wurde finanziell entlohnt. Der Arbeitsausschuß sollte auf ein Jahr aus Mitgliedern des Vereins gewählt werden und "Verbindung zu den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens, sowie Interesse und besondere Erfahrung für die im Nachbarschaftsheim durchzuführenden Arbeiten haben.[8]
Entlohnt wurden dagegen eigens angestellte Mitarbeiter, eine Hausmeisterin, Gruppenleiterinnen, eine Schneiderin, ein Schuhmacher etc. Im Ehrenamt lag die tragende Idee dieser Arbeit. Viele der Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren aber auch schlichtweg auf die Arbeit angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
In Deutschland stellen sich nur wenige Menschen für Ehrenämter zur Verfügung, die dann meist mehrere gleichzeitig bekleiden (in den Niederlanden ist jeder dritte Bürger ehrenamtlich tätig). Dennoch kann das Nachbarschaftsheim Schöneberg auf eine erfolgreiche Arbeit seit seiner Gründung 1949 zurückblicken. Demokratische Lebensformen zu lehren, war nur eingeschränkt möglich, da die notwendigen professionellen Mitarbeiter in den Anfangsjahren fehlten. Mit der Sozialarbeiterin Käthe Rawiel gewann der Verein für 16 Jahre eine Vorsitzende, deren Erfahrungen ihn durch alle Schwierigkeiten hindurch leiteten.
Das "Wirtschaftswunder" förderte den Individualismus, vernachlässigte das Gemeinwesen. Dem Nachbarschaftsheim blieb die Arbeit für bedürftige Bürger, darüberhinaus fehlten die Mittel. Eine Altentagesstätte wurde eingerichtet. Die Versehrtengruppe der Fürst-Donnersmarck-Stiftung fand Unterkunft und den geeigneten Rahmen für ihre Rehabilitationsarbeit.[9] In den sechziger Jahren konnte das Nachbarschaftsheim eine professionelle Mitarbeiterschaft aufbauen.
Mit dem "internationalen Arbeitslager" machte Heimleiter Siegfried Schallert einen Anfang in der sozial-kulturellen Arbeit, die einen neuen Schwerpunkt setzte. In der Altentagesstätte wurden die betreuten Menschen zu aktiver Mitwirkung aufgefordert. Die Bereiche Kinder- und Jugendarbeit wurden aufgebaut. Eine Kindertagesstätte entstand. Mit der "Aktion Spielraum" wurde erfolgreich für eine Verbesserung der Nachbarschaft, in der die Kinder lebten, die Anlage von Kinderspielplätzen, gekämpft. Spielgruppen lockten junge Menschen in das Nachbarschaftsheim.
Die siebziger Jahre brachten entsprechend der gesellschaftlichen Veränderungen auch einschneidende Umstruktierungen im Nachbarschaftsheim. Mitarbeiter einer jüngeren Generation stellten die bisherige Arbeit in Frage. In der Kinder- und Elternarbeit sahen sie die Möglichkeit, auch politische Ideale umzusetzen.
1978 übernahm Georg Zinner die Leitung des Nachbarschaftheimes, das sich zu diesem Zeitpunkt in einem desolaten Zustand befand, da die bisherigen Mitarbeiter ihre idealistischen Vorstellungen nicht oder nur teilweise hatten umsetzen Können. Er vertritt fünf Elemente, die die gemeinwesenorientierte sozialkulturelle Arbeit prägen: generations- und schichtenübergreifende Arbeit, die Verbindung von sozialer und kultureller Betätigung, die freie Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements, die konkret-nützlichen Hilfeangebote für die Bürger und die lokale Orientierung.[10]
Aus diesem Ansatz entstand neben der bestehenden Kinder-, Jugend- und Seniorenarbeit die Sozialstation mit ihren Angeboten in der häuslichen Krankenpflege, Hauspflege und Familienpflege, die Ausländerarbeit, Familienbildung und weitere Einrichtungen unter dem Dach des Nachbarschaftsheimes. Mehr als 270 bezahlten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen stehen heute mindestens 200 ehrenamtlich Tätige gegenüber. Rund 100 freie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen betreuen Kursangebote, kulturelle Aktivitäten, Schularbeitshilfen und ähnliches. Die Ziele des Nachbarschaftsheimes Schöneberg e.V. haben sich entsprechend den Zeitläufen verändert. Das Engagement aller Mitarbeiter ist den 1949 aufgestellten Richtlinien treu geblieben.
Mein herzlicher Dank geht an Gundi Nietfeld, deren "Geschichte des Nachbarschaftsheimes Schöneberg e.V." die Grundlage dieses Artikels bildet. Sie erforschte zwei Jahre lang dieses Kapitel Berliner Sozialgeschichte, suchte und fand Material im Landesarchiv Berlin, aber auch an anderen Orten in Berlin, Deutschland und im Ausland. Sie stellte Akten, Aufsätze, Interviews mit Zeitzeugen und Fotografien zur Verfügung.
1. Archiv des Nachbarschaftsheims Schöneberg e. V. (Archiv NBH).
2. C. Wolfgang Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit, 2 Bde., Weinheim und Basel 1988, Bd. 2, 1945-1985, S. 36.
3. Brief vom 6.4.1949. Landesarchiv Berlin.
4. Memorandum vom 7.11.1947. Landesarchiv Berlin.
5. Undatierte Satzung des Vereins "Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V.", Archiv NBH.
6. Vgl. Gundi Nietfeld, Sozial-kulturelle Arbeit im Wandel der Zeit. Die Geschichte des Nachbarschaftsheimes Schöneberg, hg. vom Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V., Berlin 1995 (Dort auch weitere Literatur und Angabe der Archive, die Material zur Geschichte des Nachbarschaftsheimes verwahren.), S. 18 ff.
7. Nietfeld 1995 (wie Anm. 6), S. 24 ff. Außerdem: Maschinenschriftliche Fassungen von Interviews von 1987 und 1988 führte, Archiv NBH.
8. Satzung des Vereins "Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V.", Archiv NBH.
9. Vgl. Nietfeld 1995 (wie Anm. 6), S. 53 ff.
10. Georg Zinner, Sozialkulturelle Gemeinwesenarbeit. Geschichte und Renaissance in der Bundesrepublik, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 1988, Nr. 12, S. 283-285, S. 283.
Website des Nachbarschaftsheims: www.nachbarschaftsheim-schoeneberg.de
Aus: "Mitteilungen" 3/1999
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