Die Parochialkirche in der Klosterstraße
Von Doris Tüsselmann

An der Ecke Klosterstraße/Parochialstraße wurde die Parochialkirche als erster bedeutender barocker Sakralbau Berlins 1695-1703 für die Anhänger der reformierten Kirche nach überarbeiteten Entwürfen Johann Arnold Nerings von Martin Grünberg errichtet. Die reformierte Gemeinde in Berlin und Cölln war nach dem Übertritt des Brandenburgischen Kurfürsten Johann Sigismund zum Calvinismus 1613 entstanden. Seit 1632 nutzte die Gemeinde die lutherische Domkirche in Cölln und den dazugehörigen Begräbnisplatz. Nachdem die Gemeinde jedoch durch die Aufnahme der – besonders in Frankreich – verfolgten Reformierten rasch angewachsen war, erteilte Kurfürst Friedrich III. 1694 der reformierten Gemeinde, vertreten durch die Herren v. Danckelmann, v. Berchem und Scultetum von Unfriede die Genehmigung, auf dem Anwesen des ehemaligen Kammerdieners und Alchimisten Johannes Kunckel in der Klosterstraße einen eigenen Kirchenbau zu errichten. Die neue Kirche erhielt nach reformiertem Brauch keinen eigenen Namen. Sie war eine Stadt- oder Parochial- (Gemeinde-) Kirche, d.h. keine Hof-, Garnison- oder Klosterkirche.

Den ersten Entwurf für die Parochialkirche lieferte Johann Arnold Nering (1659-1695), der dafür von Kurfürst Friedrich III. im Juni 1694 beauftragt wurde. Nering war einer der bedeutendsten Architekten vor Andreas Schlüter; seit 1691 unterstand ihm als dem Kurfürstlich Brandenburgischen Oberbaudirektor das gesamte Bauwesen des Staates. Nerings Entwurf eines Zentralbaus folgte sowohl niederländischen, vor allem aber italienischen Vorbildern der Renaissance. Der Entwurf sah vier Konchen vor, die mit Kugelkalotten überwölbt sind, die über der Vierung als zwei sich durchdringende Tonnengewölbe erscheinen. Im Zentrum der Anlage sollte ein dreigeschossiger, säulenumstellter Dachturm aufgesetzt werden. Vorhalle und Kirchenschiff sollten mit reichem Statuenschmuck ausgestattet werden. Kurz nach der Grundsteinlegung 1695 starb Johann Arnold Nering.

Landbaumeister Martin Grünberg (1655-1707) übernahm das Hofbauamt, somit alle Bauten Nerings und damit auch den Bau der Parochialkirche. Bereits der Bau der gewaltigen Fundamente hatte das durch eine Landeskollekte erbrachte Baugeld von 22.000 Talern sowie die Schenkung des Kurfürsten von 10.000 und der Kurfürstin von 1000 Talern aufgebraucht und zwang die Gemeinde, den Kurfürsten im Frühjahr 1696 um eine Reduzierung des Nering-Konzeptes sowie die Erlaubnis zu weiteren Spendenaufrufen zu bitten. Mit Genehmigung des Kurfürsten sahen die Entwürfe Grünbergs vom Juni 1696 sowohl eine Verkleinerung des Grundrisses, als auch eine Absenkung des Nehringschen Kuppelgewölbes vor sowie Strebpfeiler anstelle der korinthischen Säulen. Ab 1697 wurde ein Kreuzgurtgewölbe errichtet und die Kuppeldecke durch abgewalmte Satteldächer ersetzt. Grünberg setzte den Turm über eine an der Straße gelegene Vorhalle anstelle des Portikus und verringerte die ursprünglich vorgesehene repräsentative Ausschmückung des Baus. Dieser ging zügig voran, bis 1698 das halbfertige Gewölbe aus Ziegelmauerwerk über dem Zentralraum aus letztlich ungeklärter Ursache einstürzte. Die Einweihung der Kirche konnte daher erst 1703 stattfinden. 1705/1706 wurde der Turmsockel fertig gestellt, und auch die Gesamtausstattung der Kirche zog sich bis 1705 hin.

Nach dem Tod Grünbergs 1707 erfolgte unter Leitung von Philipp Gerlach in weiteren zehn Jahren die Turmaufstockung mit offener Glockenstube und Glockenspiel nach Entwurf von Jean de Bodt. Das der Gemeinde von Friedrich Wilhelm I. geschenkte Glockenspiel – das ursprünglich für den verunglückten und abgebrochenen Schlüterschen Münzturm am Schloss vorgesehen war – erklang zum ersten Mal am Neujahrstag 1715 von diesem Turm. Das von Johann Jacobi gegossene Spiel klang jedoch nicht harmonisch und wurde schon 1717 durch ein neues mit 37 Glocken von Albert de Grave aus Amsterdam ersetzt. Es konnte von Hand oder mit Hilfe einer Walze betrieben werden und war mit seinem halbstündigen Choralspiel und den durchaus auch weltlichen Konzerten bis zu seiner Vernichtung im zweiten Weltkrieg ein besonderes Wahrzeichen Alt-Berlins. Zusätzlich zu den Liedersätzen, die viertelstündlich vom Glockenturm erklangen, konnten von einem Glockenisten auf einem Spieltisch mit Manual-Stäben völlig frei 37 Töne gespielt werden. So gab es Konzerte, die über die Presse – und später den Rundfunk – angekündigt wurden und so viele Menschen anzogen, dass die Straßen verstopft waren. Leider gibt es keine Tonbandaufzeichnungen des Glockenspiels. Das Interesse ließ jedoch nach 1933 – als das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied gespielt wurden – nach; es kamen nur noch 200-300 Zuhörer. Im Gegensatz zur Darstellung in der Sage haben die vier Löwen in den Ecken des Absatzes der eigentlichen Turmpyramide jedoch nie gebrüllt.

1732 erhielt die Kirche anstelle des kleinen Positivs eine von dem berühmten Orgelbauer Johann Joachim Wagner gebaute große Orgel.

Nach einer Umgestaltung des Inneren 1837–1839 wurden von den Architekten Gustav Knoblauch und Hermann Wex 1884/85 größere Umbauten vorgenommen. Sie beseitigten die vorhandenen Emporen, fügten im Westflügel eine neue ein und schufen zwei Anbauten zu beiden Seiten des Altars für die Sakristei und die Konfirmanden, insbesondere um den ursprünglich von Nering gewünschten Raumeindruck herzustellen. Der Kanzelaltar wurde getrennt; die Barockkanzel von Johann Christoph Döbel erhielt an einem Eckpfeiler und der Altar in der östlichen Chornische einen neuen Platz.. Das Deckengewölbe und die Wände bekamen ornamentale Malereien, die barocken Steinelemente wurden herausgenommen. Weitere kleinere Veränderungen wurden 1891 von August Orth im Rahmen der Restaurierungsmaßnahmen an Turm und Glockenspiel vorgenommen.

Am 24. Mai 1944 brannte die Parochialkirche mit ihrem gesamten Inventar aus; die oberen Turmteile mit dem Glockenspiel stürzten ein. Erhalten blieben die unter dem Fußboden liegenden 30 gewölbten Grabkammern mit den Sarkophagen des 18. Jahrhunderts. 1946 baute man das Obergeschoss des Turmstumpfes zu einer Notkirche aus; die Kirchenruine wurde erst 1950/1951 gesichert. In der DDR-Zeit nutzte man die Kirche anfangs für Ausstellungen und Konzerte, dann von 1970 bis nach der Wiedervereinigung 1991 als Möbellager. Das Gebäude war 1988 neu eingedeckt worden.

Ab 1991 erfolgte dann die schrittweise Wiederherstellung der Kirche. Die Arbeiten an der Vorhalle, in der sich die erhalten gebliebenen Epitaphien des Ehepaares von Berchem, des Joachim Sculteus von Unfriede und des Hermann Ludewig Muezel sowie ein Gedenkstein für die Gefallenen der Freiheitskriege befinden, wurden 2001, die am Kirchenschiff 2004 abgeschlossen. Das Innere des Kirchenraumes blieb unverputzt. Zur heutigen Ausstattung der Kirche gehört nur das von Fritz Kühn anlässlich des Kirchentages 1961 geschaffene Schrottkreuz (aus Stahlrohren von Berliner Ruinen gefertigt), das im Altarraum aufgehängt ist.
Seit September 2007 finden wir ein 3 m hohes Modell des Turmes in der Parochialkirche im Maßstab 1:10, das zu Spenden für die beabsichtigte Wiedererrichtung des Turmes in historischer Gestalt mit Glockenspiel anregen soll. Das Gruftgewölbe wurde in den Jahren 1994-2001 wissenschaftlich untersucht und ist nach Abschluss dieser Arbeit wieder zu bestimmten Zeiten der Öffentlichkeit zugänglich.

Während des Krieges hatte auch der Verein für die Geschichte Berlins im Keller der Parochialkirche Urkundenbücher, Bilder u.a. zum Schutz gegen Fliegergefahr eingelagert (nach dem Krieg äußerte der damalige Vereinsarchivar Sommerfeld, „...wenn wir die Dinge hätten, würde der Verein heute reich sein“). Einem Schreiben des Hauptamtes für Hochbau, das sich um die Bauruinen der Stadt kümmerte, vom 22. August 1945 an das Amt für Volksbildung entnehmen wir, dass die dort eingelagerten Güter während der Besetzung durch die Russen „in weitgehendem Umfang durchsucht, in Unordnung gebracht und in vorläufig nicht feststellbarem Umfang zerstört worden sind. Durch die Abt. Raumgestaltung im Hauptamt für Hochbau ist in wochenlanger Arbeit der Beginn einer Ordnung gemacht worden, um die Zurückgabe des Bergungsgutes an die Besitzer vorzubereiten. Mitten in diese Arbeit ist von unbekannter Seite ein brutaler Eingriff erfolgt, indem Teile der in Ordnung befindlichen Sammlungen nach einer uns als laienhaft zu bezeichnenden Vorstellung vom Wert der Einzelstücke zusammengepackt und ins Ermelerhaus verbracht worden sind.“

Aus der ehemaligen St. Georgenkirche am Alexanderplatz wurden mehrere Gemälde, z.B. das einstige Altarblatt „Petrus nach der Verleumdung“ um 1780 von Christian Bernhard Rode, „Christus als Kinderfreund“ im Stil der Nazarener um 1830 sowie das Ölgemälde des ersten Pfarrers Christoph Wilke (1656-1711) zunächst im Turmsaal bzw. dem Gemeindehaus aufbewahrt.
Ein endgültiges Konzept für die Nutzung der Parochialkirche – deren Gemeinde in wechselvoller Geschichte mit den ehemaligen Gemeinden der St. Georgenkirche, der St. Petrikirche und der St. Marienkirche letztlich 2005 zur Evangelischen Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien fusionierte – liegt noch nicht vor. In den zur zeit stattfindenden Verhandlungen zeichnet sich ab, dass die Kirche der Aufbewahrung, Pflege und wissenschaftlichen Bearbeitung des kirchlichen Kulturgutes dienen soll. Eine Nutzung der Kirche für Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen wird nicht mehr beabsichtigt.

Anmerkungen:
(1) Joseph, D.: Die Parochialkirche in Berlin 1694-1894. Eine Bau- und kunsthistorische Studie auf Grund archivalischer Quellen, Berlin 1894; Naatz, H.: Geschichte der evangelischen Parochialkirche zu Berlin von 1703-1903. Festschrift zum 200jährigen Jubiläum des Bestehens der Kirche, Berlin 1903; Hoppe, Ralph: Quer durch die Mitte. Das Klosterviertel, Berlin 1997; Große Baudenkmäler Heft 525: Die Parochialkirche in Berlin, 1998; 300 Jahre Parochialkirche, hrsg. v..d. Evangelischen Kirchengemeinde Marien 2003. Vgl. auch den folgenden Aufsatz zum Parochial-Kirchof von Klaus H. von Krosigk
(2) Sie befinden sich jetzt im Kellerarchiv des Georgen-Parochial-Friedhofs 3 (Roelckestr. 142, Weißensee). Ebenso befindet sich eine der Läuteglocken aus der St. Georgenkirche von 1713 auf dem Friedhof in Weißensee. Sie wurde nach dem Krieg auf dem sog. Glockenfriedhof in Hamburg aufgefunden und nach erfolgter Reparatur wieder nach Berlin gebracht. Das marmorne Taufbecken mit Taufständer von 1806 (eiserner Dreifuß mit Cherumbinen) aus der St. Georgenkirche ist seit neuestem in der St. Marienkirche zu finden.
(3) Ich danke Herrn Peter Teicher für die Hinweise auf die derzeitigen Aufbewahrungsorte der Gemälde und des Taufbeckens aus der St. Georgenkirche und die zukünftige Nutzung der Parochialkirche sowie Herrn Martin Mende für den Bericht über die in der Gruft der Parochialkirche zwischengelagerten Dokumente und Sammlungen des Vereins für die Geschichte Berlins.

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