N 24, Artilleriestraße 14
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums - Ein verhindertes Jubiläum
Von Ernst G. Lowenthal

Am 6. Mai 1972 waren 100 Jahre vergangen, seit die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin* eröffnet wurde. Die Gründung war bereits Ende 1869 erfolgt. In der dazwischen liegenden Zeit mußten zunächst die für die Errichtung des Instituts notwendigen Mittel beschafft werden. Den Grundstock legte der Berliner Stadtrat und Repräsentant der jüdischen Gemeinde, Moritz Meyer (1811-1869). Seinem guten Beispiel folgten andere Persönlichkeiten. Von 1907 bis 1941 besaß die Hochschule ihr eigenes Haus, errichtet auf einem ihr 1894 geschenkten Grundstück in der Artilleriestraße** 14 im damaligen Bezirk N 24.

1942: Befohlenes Ende
Im Vergleich zu dem 18 Jahre älteren, konservativen Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau galt die Berliner Hochschule, obzwar politisch und religiös unabhängig, in Deutschland als die liberale Ausbildungsstätte von Rabbinern (und auch von an der Wissenschaft des Judentums interessierten Nichttheologen).

Siebzig Jahre nach der Gründung, im Sommer 1942, verfügte der nationalsozialistische Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung - wie er erklärte: "im Hinblick auf die Entwicklung der Aussiedlung der Juden" - die Schließung sämtlicher jüdischer Schulen in Deutschland. Am Ende dieses lakonischen Vernichtungsbefehls hieß es ausdrücklich: "Von einer Veröffentlichung dieses Erlasses ist abzusehen." Damit hatte auch die Hochschule, die noch bis in die ersten Kriegsjahre hinein in kleinstem Rahmen weiterarbeitete, zu bestehen aufgehört.

..aber noch Aufbau im Untergang
Wer an die hundertste Wiederkehr des Tages erinnert, an dem die Hochschule ihre Pforten öffnete, empfindet es als ein Gebot der Pietät, ihr tragisches Ende voranzustellen. Vor wenigen Jahren hat der frühere Ministerialrat Richard Fuchs (Berlin 1886 - London 1970), von 1934 bis 1939 Mitglied des Kuratoriums, seine persönlichen Erinnerungen an diese Zeit niedergelegt (vgl. Jahrbuch XII des Leo-Baeck-Instituts, London 1967).

Er beschränkt sich dabei nicht etwa auf eine Würdigung der letzten Lehrkräfte, zu denen, außer Dr. Leo Baeck, Dozent für Midrasch, Homiletik und Religionsgeschichte, die Rabbiner Dr. Julius Lewkowitz (jüdische Religionsphilosophie), Dr. Leopold Lucas (jüdische Geschichte) und Manfred Gross (Bibel) sowie Heinrich Gescheit (Talmud) und Dr. Ernst Grumach (Philosophie) gehörten - in ihrer Mehrzahl sind sie bald nach dem Ende der Hochschule in der Deportation umgekommen.

Indirekt gehört hierher auch der Berliner Bibliotheksrat Dr. Arthur Spanier, der vor dem Ersten Weltkrieg an der Hochschule Hebräisch studiert hatte, nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst an ihr lehrte und später von Holland aus verschleppt wurde. Fuchs schildert vielmehr in manchem Detail den seit 1934 erfolgten Einbau von allgemein-wissenschaftlichen Vorlesungen in die Hochschule. Bis 1933 oder 1934 hatten die Hörer die Möglichkeit, an der der Hochschule sozusagen benachbarten Berliner Universität philosophische, historische und literarische Ergänzungsstudien zu betreiben, und die Zahl derjenigen Studierenden, die in Berlin, manchmal auch anderwärts, ihren philosophischen Doktorgrad erwarben, ist beträchtlich. Als ihnen der Zugang zur Universität generell versperrt war, bot sich die Einrichtung der allgemeinen Vorlesungen an der Hochschule als willkommene Ersatzlösung an.

Aus der Not der Zeit war eine Tugend gemacht worden: Der Lehrplan der neuen Spezialabteilung umfaßte Geschichte, Philosophie/Psychologie, Literaturgeschichte und Sozialwissenschaften, war verhältnismäßig breit angelegt und konnte gehobenen Ansprüchen gerecht werden. Noch und gerade aus heutiger Sicht ist es erstaunlich und bewundernswert zugleich, was damals geplant, geboten und geleistet wurde. Dieser Hochschulgeist war ein typisches Beispiel für das, was Professor Ernst Simon, ein gebürtiger Berliner (heute Jerusalem), 1959 in seiner Untersuchung über die jüdische Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland mit "Aufbau im Untergang" bezeichnet und mit geistigem Widerstand verglichen hat.

Verwaltung, Lehrkörper und Studierende
Die Lehrer der Hochschule kannten die Einrichtung weder eines Präsidenten noch eines Direktors, wenn auch der Historiker Ismar Elbogen, schon durch die lange Zeit seiner Zugehörigkeit zur Anstalt (1902-1938), die Seele des Ganzen war und blieb. Das engere "Lehrerkollegium", das sich vom Kreis der Dozenten unterschied, wählte vielmehr für jedes akademische Jahr einen neuen Vorsitzenden; das Amt ging also reihum. Auch Baeck, was zuweilen angenommen wird, ist niemals "Direktor" der Hochschule gewesen.

Die äußere Verwaltung lag stets in den Händen eines jüdisch-paritätisch zusammengesetzten Kuratoriums. In diesem Gremium fanden sich an jüdisch-wissenschaftlichen Dingen interessierte Vertreter des deutschen Judentums zusammen. Manche von ihnen standen im allgemeinen öffentlichen Leben an prominenter Stelle. Besonders zahlreich in diesem Kreis waren die Juristen.
Vor und nach 1932 findet man hier die Namen der Anwälte Dr. Hermann Veit-Simon, Dr. Alexander Philippsborn und Justizrat Arnold Seligsohn (sämtlich in Berlin) sowie des Frankfurter Anwalts Dr. Eduard Baerwald; hier wirkten auch Landgerichtsrat Dr. Arthur Lilienthal und Kammergerichtsrat Leo Wolff, beide in Berlin an führender Stelle im jüdischen Verbandswesen, Polizeivizepräsident Dr. Bernhard Weiss und die Bankiers Sigmund und Oscar Wassermann.

Die wissenschaftliche Welt war zu jener Zeit vertreten durch den Hamburger Philosophen Ernst Cassirer, den Mathematiker Issai Schur, der 1935 von Berlin nach Jerusalem ging, und durch den Islamisten Gotthold Weil (Staatsbibliothek Berlin, später Nationalbibliothek Jerusalem). Ferner waren Direktor Heinrich Stahl, der spätere langjährige Vorsitzende der Berliner Gemeinde, und mehrere angesehene Kaufleute Kuratoriumsmitglieder. Letzter Sekretär der Hochschule war der Jurist Dr. Hans-Erich Fabian, nach seiner Befreiung aus Theresienstadt erster Vorsitzender der Berliner Nachkriegsgemeinde.

Zu keiner Zeit war die Hochschule auf Rosen gebettet. Dafür schätzte sie ihre organisatorische Selbständigkeit und ihre geistige Unabhängigkeit zu hoch. Begonnen hatte sie mit einer hauptamtlichen und drei nebenamtlichen Lehrkräften. Später waren von fünf Lehrstühlen (Bibel, Talmud, Religionsphilosophie, jüdische Geschichte und Literatur, praktische Theologie und Religionsgeschichte) vier hauptamtlich besetzt. Rabbiner Baeck war Dozent im Nebenberuf, obwohl bekannt ist, daß ihm gerade die akademische Lehrtätigkeit immer ganz besonders am Herzen lag - bis zum bitteren Ende. Die Hochschulverfassung gestattete es aber, Gelehrte von Ruf zu Gastvorlesungen einzuladen. So hat Hermann Cohen, nach seiner Emeritierung als Philosophieprofessor in Marburg, in den Jahren 1912/18 an der Berliner Hochschule Vorlesungen und Übungen abgehalten, und so hat viel später, 1935, Martin Buber über biblischen Messianismus gelesen.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lag das Vermögen der Hochschule unter 200.000 Mark, und der Etat bewegte sich unter 20.000 Mark. Später flossen ihr größere Stiftungen zu. Die Folgen des Krieges 1914/18 trafen sie schwer. Beiträge von jüdischen Gemeinden und Verbänden solcher Gemeinden sowie private Zuwendungen halfen hier aus, ohne jedoch, schon infolge der allgemeinen Wirtschaftsnot, konstant zu bleiben. Als ihr 1920 die ursprüngliche Bezeichnung "Hochschule" offiziell zurückgegeben wurde, erhielt der Wille zur Führung der Anstalt auf akademischer Ebene erneut Auftrieb. Hinzu kam, daß die Hochschule zu einem derjenigen Institute bestimmt wurde, die die wissenschaftliche Prüfung in jüdischer Religion für das Lehramt an Höheren Schulen abnehmen durften; gleichzeitig wurden zwei Dozenten der Hochschule in die Prüfungskommission berufen.

Die Zahl der Studierenden hielt sich in Grenzen. Begonnen hatte man 1872 mit zwölf. 1913 waren es bereits 63. 1920 war die Zahl auf 58 zurückgegangen, aber 1921 wieder auf 63 angestiegen (zuzüglich 45 Gasthörer) und 1929 auf 106. Mit einer Gesamtzahl von 155, darunter 27 Frauen, im Jahre 1932 war der Höhepunkt erreicht. Selbst 1936 betrug die Gesamtzahl der Hörer noch 107 und im Sommer 1937 noch 141 (38 bzw. 83 außerordentliche miteingerechnet). Der Zuwachs bis zum Jahre 1932 erklärt sich einmal daraus, daß bis dahin die Aussichten auf die Erlangung eines Rabbineramtes relativ günstig waren. Zum andern ermöglichte das Statut der Hochschule auch die Zulassung solcher Studierender, "die eine vertiefte jüdische Bildung in einzelnen Gebieten suchten, ohne sich ganz diesen Studien widmen zu können". Bis zu den Deportationen Ende 1941 hielt sich die Zahl von etwa einem Dutzend ordentlicher Hörer; die der Gasthörer war um ein Vielfaches höher.

Eine genaue Studenten- und Hörerfrequenz während der 70 Jahre bis 1942 läßt sich heute ebenso schwer rekonstruieren, wie die Gesamtzahl der Absolventen zu ermitteln ist. indes, ohne Übertreibung darf gesagt werden, daß mindestens zwei oder gar drei Generationen zukünftiger Rabbiner, akademischer Religionslehrer und einzelner judaistischer Forscher "durch diese Schule gegangen" sind.

Unbestrittener Nestor der überlebenden Absolventen der Hochschule ist der überaus rüstige Dr. Georg Salzberger in London, 30 Jahre lang liberaler Gemeinderabbiner in Frankfurt/M., der Ende dieses Jahres seinen 90. Geburtstag begehen kann. In London residieren von den Hochschulabsolventen ferner die jetzt emeritierten Rabbiner Ignaz Maybaum (vorher Frankfurt/Oder und Berlin) und Dr. Werner van der Zyl (vorher Berlin) sowie die Philologin Dr. Ellen Littmann, die vor einigen Jahren Elbogens "A Century of Jewish Life" ins Deutsche übertrug. Mit einigen Kollegen aus dem anglo-amerikanischen Bereich bilden diese drei den Lehrkörper des Leo Baeck College, das in gewisser Weise den Geist und die Tradition der Berliner Hochschule fortzusetzen und zu bewahren sich bemüht.
Produkt deutsch-jüdischen Erbes
Die Begründung der modernen Wissenschaft des Judentums war, so hat es Leo Baeck mehr als einmal formuliert, neben der Entwicklung einer zeitgemäßen Sozialarbeit und der Schaffung und Erhaltung der Einheitsgemeinde, einer der großen Errungenschaften des deutschen Judentums. Die Hochschule in der Artilleriestraße in Berlin war Produkt und Ausdruck dieser Wissenschaftsbewegung. Und wenn auch diese Pflanzstätte seit bald 30 Jahren nicht mehr besteht und ihre repräsentativen Kräfte, soweit sie die Katastrophe überlebten, heute in alle Welt zerstreut sind - der Geist der Schule lebt in ihnen und in ähnlich ausgerichteten wissenschaftlichen Instituten namentlich im anglo-amerikanischen Ausland weiter fort.

* Im folgenden wird durchweg von "Hochschule" gesprochen, auch wenn diese sich von 1883 bis 1920 und ab 1934 auf behördliche Anordnung nur "Lehranstalt" nennen durfte.

Aus: "Mitteilungen" 3/1972

Anmerkung der Redaktion: ** Die Artilleriestraße wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Tucholskystraße umbenannt.
Redaktion: Gerhild H. M. Komander 09/2004