Das historische Klosterviertel. Eine Spurensuche
Von Wolther von Kieseritzky

Gibt es das „Klosterviertel“ überhaupt? Die Frage scheint berechtigt, denn zum einen hat die Handvoll Straßen um Parochial- und Klosterkirche kaum jemals unter diesem Namen firmiert, zum anderen existiert dieses Viertel im gegenwärtigen Bewusstsein praktisch nicht – bekannt sind allenfalls das nicht zu übersehende Stadthaus, das Palais Podewils als Kulturstandort im Nirgendwo und die Reste der Klosterkirche, an der die Berliner täglich vorbeifahren. Als Wiege der Stadt gilt heute den meisten das Nikolaiviertel, nicht aber Molkenmarkt oder Klosterviertel.

Die Stadtpläne zeigen dabei, wie sehr unsere gegenwärtige Unsicherheit durch eine Verkehrsinfrastruktur (vor allem Grunerstr,) geprägt ist, welche den mittelalterlichen, für die Stadtentwicklung maßgeblichen Handelswegen nur noch rudimentär folgt. Als wichtigste Flussquerung der mittelalterlichen Städte Berlin-Cölln besaß die Mühlendammbrücke zu beiden Seiten Platzflächen, die Verkehr und Handel begünstigten. Der „Olden Markt“ – der Name Molkenmarkt erscheint erst im späteren 17. Jh. – entwickelte sich zum Kreuzungspunkt der zentralen Wirtschaftswege: Über die Mittelstr. (Spandauer Str.) ging es Richtung Spandau und Magdeburg, über die Oderberger Str. (Georgen-/König-/Rathausstr.) ins wirtschaftlich bedeutende und bis ins späte 14. Jh. mit Niederlagsrecht privilegierte Oderberg sowie nach Stettin, die Stralauer Str. führte nach Frankfurt/Oder und über die Mühlendammbrücke gelangte man nach Leipzig.

Nur selten findet sich der Begriff „Klosterviertel“ in den Urkunden und Rechtsquellen: Einmal wird Mitte des 14. Jh. die Einteilung der Stadt in vier Quartiere erwähnt. Dies hatte steuerliche und wehrtechnische Gründe, jedem Viertel stand jeweils ein Stadtbediensteter vor, die Torwärter und der Marktmeister empfingen ihren Lohn von den Haushalten des jeweiligen Viertels. Genannt werden das Heiliggeistviertel, Marienviertel, Nikolaiviertel und eben auch das Klosterviertel. Ganz wie es sich gehörte, fungierte die städtische Zentrale, das Rathaus, als Mittelpunkt dieser Vierteleinteilung.

Eine zweite Erwähnung findet das Klosterviertel in einer Anordnung von Kurfürst Johann Sigismund 1618. Sie sollte das Verhalten bei Feuersbrünsten „oder aber Tumultt und Auflauff“ regeln. In diesem Fall hatten die nicht-aufständischen Bürger beim Glockengeläut bewaffnet auf den Sammelplätzen zu erscheinen. Ausdrücklich nahm der Kurfürst Bezug auf die Tumulte der Berliner Bürger gegen die Hohenzollern nach deren Übertritt zum reformierten Glauben 1615.

In ihrer Gestalt entsprach die Stadt dem typischen hochmittelalterlichen Stadt- und Landesausbau. Die in der Chronik von 1280 erwähnte „Exstructio“, das „Erbauen“ von Berlin unter den Markgrafen Johann I. und Otto III. (1220-1266/67), bezieht sich auf den weitgehend einheitlich geplanten, aber phasenweise umgesetzten Ausbau einer bereits vorhandenen Siedlung des zentral gelegenen Marktortes. Die Jüden- und Klosterstr. wurden ringförmig parallel zur 1319 erwähnten, wohl aber auf die 1250er Jahre zurückgehenden Stadtmauer angelegt und haben im Stadtgrundriß bis heute überdauert. Der Name Jüdenstr. ist seit 1392 bezeugt, die Klosterstr. (Klostergasse) selbst erst seit Ende des 17. Jh. Nach 1660 wurde die Stadtmauer – wie auf dem Perspektivplan von Johann Schulz 1688 erkennbar – durch einen Festungsring ersetzt, dieser wiederum ein halbes Jahrhundert später durch die Akzisemauer. So reichte das Klosterviertel von der Spree (Stralauer Str.) bis zur Rathausstr., vom Molkenmarkt bis zur Stadtmauer bzw. später bis zur Stadtbahn. Entlang des Spreeufers entstand eine Gewerbezone mit Ziegelhof (vor dem Stralauer Tor), Hafenanlagen, Mühlen, Schlachthöfen, im nördlichen Bereich auch Gerbereien mit Walkhaus und Holzplatz.
Charakteristisch für das Klosterviertel war das Miteinander der drei wesentlichen Elemente des öffentlichen und politischen Lebens der Stadt: die räumliche Nachbarschaft von Bürgern, Kirche und Landesherrn. Dabei lag der markgräfliche Hof – das „Hohe Haus“ in der Klosterstraße als gleichsam „staatliche“ Repräsentation – nicht im Zentrum, sondern eher am Rande der bürgerlich geprägten Stadt. Nach der Verlagerung der kurfürstlichen Residenz auf die Cöllner Stadtseite behielt das „Hohe Haus“ wichtige Funktionen, sowohl wirtschaftliche, wie die Tuch- und Wollhandlungen von Andreas Kraut im 18. oder von James Simon im 20. Jh., als auch kulturelle wie das Atelier Christian Daniel Rauchs.

Von herausgehobener Bedeutung war auch die Kirche in diesem Viertel. Die Franziskaner wirkten vielfältig auf die Stadt ein, die Klosterkirche selbst diente als Hauptort religiösen Lebens insbesondere in den Zeiten des päpstlichen Interdikts (1324-1345) und besaß zudem politische Symbolkraft – hier ließ sich der Markgraf/Kurfürst von den Berliner Bürgern die Herrschaft bestätigen.
In besonderer Weise prägten aber das bürgerliche Leben und die städtische Verwaltung diesen Stadtbereich. Gerade die Handwerke waren – neben dem Marienviertel – vor allem im Klosterviertel prominent vertreten. Die mittelalterliche Wohnbebauung, kleinere Grundstücke mit bis zu zweigeschossigen Bauten, erhielt sich bis in die Zeit der beginnenden Industrialisierung im 19. Jh. Sie war im 17. und 18. Jh. durch zwei- bis dreigeschossige Bürgerhäuser, bürgerliche Stadtpalais (z.B. Palais Podewils) und – in begrenztem Umfang – nobilitierte Quartiere am Molkenmarkt (Palais Schwerin) ergänzt worden. Städtische Herrschaft konzentrierte sich im Rathaus als dem Schnittpunkt der vier Stadtviertel und in der zeitweilig am Alten Markt gelegenen Stadtvogtei, besonders aber seit 1900 im Stadthaus, das einen wesentlichen Teil der kommunalen Selbstverwaltung aufnahm.

Dennoch ist die Geschichte des Klosterviertels zugleich eine Geschichte seines politischen – nicht wirtschaftlichen – Bedeutungsverlustes, dieser steht in gewissem Sinne proportional zum Machtzuwachs der fürstlichen Landesherrschaft bzw. – im 20. Jh. – des Staates. Solange sich Berlin bis ins späte Mittelalter die Hauptfunktion mit anderen Orten (z.B. Stendal, Brandenburg, Prenzlau) teilte, galt das Klosterviertel als politisches Zentrum; noch 1448 drangen die dem fürstlichen Machtanspruch widerstrebenden Berliner in die fürstliche Kanzlei in der Klosterstraße ein und verwüsteten die Akten. Erst mit dem Aufstieg der Hohenzollern verlagerte sich die Herrschaft mit dem Schloß auf die westliche Spreeseite.

Die substantielle Veränderung des Stadtraums im Klosterviertel vollzog sich ganz wesentlich mit der Entwicklung Berlins zur Industriemetropole im 19. Jh. Die Bedürfnisse der hauptstädtischen Verwaltung, Infrastruktur und Verkehrstechnik zogen zahlreiche großräumige Bauten nach sich (Stadthaus, Elektrizitätskraftwerk, Stadtbahn, U-Bahn u.a.). Orientierte sich diese Modernisierung noch an der tradierten bürgerlichen Stadtstruktur, so wurde diese im 20. Jh. immer stärker durch staatliche Repräsentationswünsche überlagert. Dazu gehört das von den Nationalsozialisten geplante Verwaltungsforum am Stadthaus, für dessen – dann nicht ausgeführten – Bau 1935 das mittelalterlich geprägte Quartier am Krögel planiert wurde. Im Rahmen der dann bevorzugten Achsenplanung des „Germania“-Vorhabens von Albert Speer geriet das Klosterviertel wieder aus dem Blick.
In den Nachkriegsjahren jedoch setzte sich – begünstigt durch die Bombenschäden – die Tendenz zur Umwidmung der alten Stadt im Sinne staatlicher Repräsentation fort. Die Anlage von Straßen, die geradezu Schneisen quer durch das Klosterviertel schlugen (wie die für Fest- und Militärparaden der DDR entwickelte Grunerstr.), sowie die Verlagerung des Zentrums veränderten die alte historische Mitte vollends: Die betroffenen Stadtviertel verschwanden (wie das Marienviertel), erhielten eine dienende Funktion wie das Nikolaiviertel oder wurden – wie das Klosterviertel – durch die staatlich erzwungene „Randlage“ in ihrer Entwicklung abgebrochen.

Es ist an der Zeit, sich an die bürgerliche Stadtmitte zu erinnern, die nicht am Potsdamer Platz oder am Hackeschen Markt liegt, sondern zwischen Marienkirche, Molkenmarkt, Parochial- und Klosterkirche.

Anmerkungen:
(1) Zur Literatur s. die Beiträge in Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichte Berlins, Bd. 1, München 1987, hier bes. Winfried Schich: Das mittelalterliche Berlin (1237-1411), S. 139-248; Knut Schulz: Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1411/12-1618), S. 251-342.
(2) Landesarchiv Berlin, A Rep. 500, Nr. 17. Vgl. den Artikel von Uwe Schaper in diesen „Mitteilungen“.

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