Von Alexander C.T. Geppert

000 gewerbeausstellung

"1896 wurde Berlin zur Weltstadt. Bis dahin war es nur eine europäische Provinzstadt. Die Markscheide bildet die Gewerbeausstellung im Treptower Park."
Eduard Spranger[1]

I. Ausstellungsfrage und Weltstadtgefühle

Als vor 110 Jahren, am 1. Mai 1896, im Treptower Park in Anwesenheit Wilhelms II. und seiner Frau Auguste Viktoria mit einem aufwendigen Zeremoniell die große Berliner Gewerbeausstellung eröffnet wurde, bedeutete dies einen neuen Höhepunkt, nicht das Ende einer jahrzehntelang sowohl im Deutschen Reich als auch international höchst kontrovers ausgetragenen Debatte um die sogenannte „Ausstellungs-“ oder 001 gewerbeausstellung„Weltausstellungsfrage“. Etwa 35 Jahre lang, von den späten 1870er Jahren bis zum Winter 1910 diskutierten Politiker, Geschäftsleute und eine Vielzahl selbsternannter Experten unter diesem Schlagwort, ob es nicht nur zu überlegen, sondern sogar dringend geraten sei, nach dem Vorbild westlicher Großmächte wie Großbritannien, Frankreich oder den USA auch in Deutschland einmal eine internationale Exposition abzuhalten, vorzugsweise in der Reichshauptstadt. „An Deutschland ist die Reihe, die Völker zu empfangen“, hieß es etwa 1880 in der viel gelesenen Streitschrift Eine Weltausstellung in Berlin: „Berlin, die jüngste der Reichshauptstädte, muß internationalen Cercle halten. [...] Berlin wird alte Vorurtheile, die gegen das ehemalige wendische Fischerdorf bestehen, zerstreuen, es wird selbst die Reste seiner kleinbürgerlichen Vergangenheit abschütteln und sich als Weltstadt fühlen lernen.“[2] Der vorliegende Text liest die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 als Beispiel eines flüchtigen Großereignisses, das aufgrund seiner vielfach verschränkten und verworfenen internationale Bezüge nur in einem globalen Kontext adäquat zu begreifen ist, selbst wenn es zeitgenössisch vorrangig im lokalen Rahmen konsumiert wurde und dort entsprechende Wirkungen zeitigte.

Deutschlands Teilhabe an den in ihrer sozial- und kulturhistorischen Bedeutung wohl kaum zu überschätzenden globalen Ausstellungsnetzwerken des späten 19. Jahrhunderts war lange Zeit kompliziert und von großen Konflikten geprägt. Selbstverständlich hatte sich das Reich (bzw. vor 1870/71 Preußen und/oder der Zollverein) bis dato aktiv mit eigenen Sektionen an internationalen Expositionen 1851 in London, 1855 und 1867 in Paris, 1873 in Wien, 1876 in Philadelphia, 1888/89 in Melbourne und 1893 in Chicago beteiligt, aus nahe liegenden politischen Differenzen nicht aber 1878 und 1889 in Paris teilgenommen. Während der noch immer nachwirkende deutsch-französische Krieg von 1870/71 und die revolutionären Aufstände der Kommune 1878 eine bilaterale Kooperation zwischen Monarchie und Republik erschwerten und zur Absage Deutschlands führten, stand die Exposition Universelle von 1889 ganz im Zeichen der Jahrhundertjahrfeier der Französischen Revolution und wurde deshalb vom Deutschen Reich boykottiert.[3]

Und beinahe ebenso selbstverständlich waren unzählige lokale, regionale und nationale Industrie- und Gewerbeausstellungen unterschiedlicher Dauer und Größe in Deutschland abgehalten worden, in Berlin, aber auch in anderen Teilen des Reiches. Sachsen oder Württemberg etwa konnten beide mit einer bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden Ausstellungstradition aufwarten. In Berlin selbst wurde beispielsweise anlässlich des zehnjährigen Gründungsjubiläums des Zollvereins zwischen August und Oktober 1844 eine Allgemeine Deutsche Gewerbe-Ausstellung zu Berlin veranstaltet, die immerhin über 3.000 Aussteller und 270.000 Besucher zählte; eine zweite, sehr viel größere Gewerbeausstellung wurde 35 Jahre später, von Mai bis Oktober 1879, auf einem zwischen Lehrter Bahnhof, Alt-Moabit und Invalidenstraße gelegenen Gelände abgehalten. Zwar wies letztere insgesamt deutlich weniger Aussteller auf, wurde aber von mehr als zwei Millionen Besuchern besichtigt, denen die Ausstellung der Vossischen Zeitung zufolge „so frisch, niedlich und berückend wie eine junge Braut“ erschien. Zeitgenössischen Beobachtern galt insbesondere die hochprofitable Gewerbeausstellung von 1879 als großer Erfolg, welcher das Selbstvertrauen der sich anschließend in der Stiftung der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahre 1879 neu organisierenden lokalen Berliner Kaufleute und Industriellen gestärkt und erstmals überregional die rasante Entwicklung Berlins zu einer Industriestadt verdeutlicht habe, „mit der die Welt zu rechnen hat.“[4]

Trotz der Existenz unterschiedlicher nationaler und regionaler Ausstellungstraditionen im Reich war das Abhalten einer solchen Gewerbeausstellung indes mit der Organisation einer genuinen Weltausstellung unter internationaler Beteiligung kaum zu vergleichen, und so stellte die gelungene Durchführung dieses Projektes zuvörderst einen neuen Anlass dar, eine alte Debatte wiederzubeleben. „Wir haben lange genug Gastrollen auf fremden Weltausstellungen gegeben, wir sind jetzt einmal verpflichtet, Gastfreundschaft zu üben“, fasste ein Sprecher 1882 vor dem Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes ein in zahlreichen Spielarten immer wieder vorgebrachtes Argument mit großer Verve zusammen: „Das ewige Schnorrertum ist des deutschen Volkes unwürdig, um so mehr, als es jetzt in der Lage ist, die fremden Gäste würdig empfangen zu können.“[5]

In den Quellen finden sich widerspüchliche Angaben, wann genau, durch wen und in welchem Kontext diese „Ausstellungsfrage“ zum ersten Mal gestellt worden war. Es scheint, als ob entsprechende Forderungen sehr früh, im unmittelbaren Anschluss an die Pariser Exposition Universelle von 1855 und damit nur vier Jahre nach der Internationalisierung des gesamten Mediums 1851 im Londoner Hyde Park erhoben worden seien. Offenbar verdichteten sie sich aber erst nach der Reichsgründung zu einer in der Öffentlichkeit immer wieder neu aufgeworfenen und breit diskutierten Frage. Das Abhalten der Wiener Weltausstellung 1873 als der ersten und letztlich einzigen Weltausstellung des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, der von Franz Reuleaux (1829–1905) ausgelöste „Billig und schlecht“-Skandal um die als defizitär empfundene Selbstdarstellung des deutschen Reiches 1876 in Philadelphia sowie das in den frühen 1880er Jahren neu einsetzende deutsche Weltmachtstreben führten zu einer intensiven Debatte, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein virulent blieb. So hatte auch – Joseph Goebbels zufolge – Adolf Hitler bald nach den erfolgreichen Olympischen Spielen von 1936 zunächst die Organisation einer Weltausstellung in Berlin erwogen, sie dann aber aus kriegspolitischen und stadtplanerischen Gründen auf die Nachkriegszeit verschoben.[6] Beantwortet und gelöst wurde die Mitte des 19. Jahrhunderts erstmalig aufgeworfene deutsche Weltausstellungsfrage schließlich nicht vor der Jahrtausendwende: mit der Eröffnung der Hannoveraner Weltausstellung EXPO 2000 am 31. Mai 2000.

Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Durchführung einer Weltausstellung in Berlin wurden zahlreiche detaillierte, zum Teil genauestens ausgearbeitete Vorschläge unterbreitet, wie eine Berliner Weltausstellung auszusehen und wo in der Reichshauptstadt sie stattzufinden habe. Keines dieser Projekte wurde jedoch jemals in der vorgesehenen Form realisiert.

002 gewerbeausstellung Ein Blick auf die Anzahl zeitgenössischer Publikationenverdeutlicht, dass sich allein numerisch für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt drei Phasen identifizieren lassen, in der die Weltausstellungsfrage besonders breit in der Öffentlichkeit diskutierte wurde: zwischen Juli 1878 und April 1882 (38 Publikationen); 1891/92, insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 1892 (140 Publikationen), sowie noch einmal zwischen 1907 und 1910 (50 Publikationen).[7]

In allen drei Phasen gehörten zwei Zusammenschlüsse von Berliner Geschäftsleute und Industriellen zu den treibenden Kräfte: einmal die nach der Gewerbeausstellung von 1879 gegründete Vereinigung von 1879 unter dem Vorsitz des Kommerzienrats Fritz Kühnemann (1840–1917), zum anderen der noch einflussreichere, ebenfalls 1879 gegründete und heute noch existierende Verein Berliner Kaufleute und Industrieller. Mehr als zehn Jahre lang, von 1891 bis 1901, stand dieser unter dem Vorsitz des Geheimen Kommerzienrats Ludwig Max Goldberger (1848–1913)003 gewerbeausstellung, eines weit gereisten jüdischen Bankiers. Goldberger konnte sich bald als einer der führenden Protagonisten des deutschen Ausstellungswesens überhaupt etablieren und wurde 1906 zum ersten Präsidenten der neu eingerichteten Ständigen Ausstellungskommission für die deutsche Industrie ernannt. Gemeinsam mit dem Architekten Bernhard Felisch (1839–1913) standen Kühnemann und Goldberger später dem sogenannten Arbeitsausschuss der Berliner Gewerbeausstellung vor, dem leitenden Exekutivorgan.

Wie Johannes Schultze bereits vor über drei Jahrzehnten in dieser Zeitschrift etwas anekdotenhaft andeutete, „kam es“ in Berlin schließlich nicht zu einer Weltausstellung.[8] Nachdem sich zuvor der Deutsche Handelstag wiederholt für das Projekt einer internationalen Ausstellung, Regierung und Reichstag jedoch vehement dagegen ausgesprochen hatten, endete die erste Phase im Frühjahr 1882 mit einer persönlichen Intervention Bismarcks. Ein zweiter Vorstoß, initiiert durch den Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes und maßgeblich unterstützt vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller, der Vereinigung von 1879 sowie wiederum dem Handelstag, scheiterte zehn Jahre später ähnlich abrupt. Nach einer monatelang hin- und herwogenden Debatte verkündete der Reichs-Anzeiger am 13. August 1892 die definitive kaiserliche Entscheidung, daß „dem Plane einer Weltausstellung in Berlin von Reichs wegen nicht näher zu treten sei.“[9] Während offiziell argumentiert wurde, dass man die Beteiligung der deutschen Industrie an der für 1893 vorgesehenen und sich in der Tat als epochal erweisenden World’s Columbian Exposition in Chicago nicht gefährden wolle, gibt ein später bekannt gewordenes persönliches Schreiben vom 20. Juli 1892, das Wilhelm II. über seine Frau dem Reichskanzler Graf von Caprivi zukommen ließ, detaillierter darüber Auskunft, warum der Kaiser „absolut dagegen“ sei und „nicht wünschte, daß der Idee Folge gegeben oder Wachstum erlaubt“ werde. Weiter hieß:

Der Ruhm der Pariser läßt den Berliner nicht schlafen. Berlin ist Großstadt, Weltstadt (vielleicht?), also muß es auch seine Ausstellung haben! […] Das ist völlig falsch. […] Paris ist nun mal – was Berlin hoffentlich nie wird – das große Hurenhaus der Welt, daher die Anziehung auch außer der Ausstellung. In Berlin ist nichts was den Fremden festhält als die paar Museen, Schlösser und die Soldaten; in sechs Tagen hat er alles mit dem rothen Buch [dem Baedeker, ACTG] in der Hand gesehen und zieht dann erleichtert weiter, nachdem er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, auch gefunden. Das macht sich der Berliner nicht klar und würde es auch gründlich übelnehmen wenn man ihm das sagte. Aber das ist eben das Hindernis der Ausstellung.[10]

Jeden Widerspruch ausschließend kulminierten Wilhelms II. Argumente in der apodiktischen Feststellung: „Ich will die Ausstellung nicht, weil sie meinem Vaterland und -Stadt Unheil bringt! [...] Ausstellung is nich, wie meine Herren Berliner sagen.“[11]

Über seine persönlichen und durchaus kontraintuitiven Motive für solche starken Aversionen und die auch 1907–1910, während der dritten Phase der Debatte, noch immer durchgehaltene und ähnlich vehement vorgetragene Zurückweisung des gesamten Ausstellungskomplexes kann nur spekuliert werden. Als junger Thronfolger hatte Wilhelm II. zusammen mit seinen Eltern die Weltausstellungen 1867 in Paris und 1873 in Wien besucht. Man könnte anzunehmen versucht sein, dass der Kaiser den Grad öffentlicher Aufmerksamkeit scheute, welchen das erfolgreiche Abhalten einer internationalen Ausstellung für das deutsche Bürgertum, das deutsche Reich und damit gerade nicht für ihn selbst bedeutet hätte. Eine durchaus auf Gegenseitigkeit beruhigende Abneigung und ein gewisses Maß an Spannungen zwischen der Reichshauptstadt und ihm waren ohnehin seit Langem bekannt. Vollständig und zufrieden stellend erklären lässt sich eine solche Aversion Wilhelms II. jedoch nicht.

Übrig blieb zuletzt eine selbstorganisierte und eigenverantwortete Ausstellung vornehmlich industriell erzeugter Produkte als einer „erweiterten Berliner Ausstellung“, zu der mittels einer komplizierten juristischen Konstruktion ausländische Aussteller dann zugelassen werden konnten, wenn sie eine eigene Niederlassung in der deutschen Reichshauptstadt besaßen. Die 1896, das heißt vier Jahre nach dem kaiserlichen Verdikt, abgehaltene Berliner Gewerbeausstellung hatte somit eine „eine der merkwürdigsten Vorgeschichten [….], die einer Ausstellung je vorangegangen sind“, wie die Deutsche Bauzeitung lakonisch kommentierte.[12] Es ist dieser komplexe Entstehungshintergrund und das kontinuierliche Herabstufen von Zuschnitt und Größe – von international zu national, von national zu lokal, von universell zu industriell –, welche die historische Klassifikation und historiographische Charakterisierung der Berliner Gewerbeausstellung im Kontext des um die Jahrhundertwende wie nie zuvor florierenden internationalen Ausstellungswesens so schwierig macht. Alleine in den zehn Jahren nach 1889 wurden große internationale Ausstellungen unter anderem in Paris (1889 und 1900), in Chicago (1893), in Antwerpen (1894), in Amsterdam (1895), in Brüssel (1897) und in Turin (1898) abgehalten. Gemessen an den ursprünglichen Plänen einer umfassenden, internationale Maßstäbe setzenden Weltausstellung à la française blieb somit nicht einmal ein Torso übrig, der zudem international nur ein eher geringes Maß an medialer Aufmerksamkeit auf sich zog. Zugleich gelang es jedoch in einer konzertierten Aktion, die Ausstellung in Form einer rein bürgerlich-privaten Unternehmung überhaupt auszurichten und damit das größte Expositionsspektakel auf die Beine zu stellen, das es bis dato jemals in Berlin gegeben hatte. „Berlin hat, was es der Welt zeigen darf, deshalb will Berlin der Welt einmal zeigen, was es hat!“, insistierte Goldberger auf einer öffentlichen Versammlung im November 1892 und ebnete so zumindest den Weg für eine reduzierte Berliner Industrieausstellung als der einzig möglichen Konsequenz aus dem grundsätzlich ablehnenden und seiner Meinung nach irrigen Verdikt des Kaisers.[13]

Für die Frage nach Erfolg oder Misserfolg der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 erweist sich so die Perspektive einmal mehr als alles entscheidend: Aus internationaler Sicht war die Berliner Gewerbeausstellung buchstäblich kaum der Rede wert und galt höchstens ob ihrer komplizierten Vorgeschichte als eine gewisse Kuriosität. „L’Exposition actuellement ouverte à Berlin“, kommentierte etwa die Revue de Paris mit einer Mischung aus Verwunderung und Herablassung, „n’est ni universelle, ni même nationale: elle est purement locale. Berlin avait rêvé autre chose.“[14] Aus nationaler Perspektive hingegen handelte es sich für lange Zeit um diejenige Ausstellung, die einer deutschen Weltausstellung am nächsten kam, gezielt mit entsprechenden Bedeutungen aufgeladen, und mindestens in einem europäischen, wenn nicht sogar globalen Kontext gelesen, konsumiert und begriffen werden sollte.

II. Struktur und Charakteristika des Areals im Treptower Park

Das erfolgreiche Scheitern der Berliner Gewerbeausstellung setzte sich nach ihrer Eröffnung am 1. Mai 1896 fort. Bis zum 15. Oktober 1896 wurde sie nach offizieller Zählweise von knapp über 7,4 Millionen Besuchern besichtigt, im Durchschnitt 41.000 Menschen pro Tag – und damit weit weniger als die allen Kalkulationen zugrunde liegenden 55.000 Tagesbesucher. Erklärt wurde dieses quantitativ enttäuschende und letztlich zu einem großen finanziellen Defizit führende Ergebnis nicht zuletzt mit dem schlechten Wetter: An 120 der insgesamt 165 Öffnungstage regnete es.[15]

Dennoch entwickelte sich ein Besuch bald zu einer gesellschaftlichen Verpflichtung ersten Ranges und die Ausstellung selbst zu dem Ereignis der Saison, wie zahlreiche Beobachter, Kritiker und Journalisten immer wieder übereinstimmend feststellten: „Man muß doch auf der Ausstellung gewesen sein; denn wer sie nicht besucht hat, gilt gleichsam als nicht existenzberechtigt“, berichtete die Vossische Zeitung bereits eine Woche nach der Eröffnung: „Er darf nicht mitreden, wird am Stammtisch über die Achseln angesehen und von den strafenden Blicken seiner Herren Söhne und Fräulein Töchter verfolgt, denen er noch nicht Gelegenheit gegeben hat, die Schaustellung in Treptow zu sehen.“[16] Der einflussreiche Journalist und Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1948) berichtete in seinen regelmäßig in der Breslauer Zeitung erschienenen Briefen ausführlich von und über die Gewerbeausstellung. Von zahlreichen präzisen, oftmals höchst amüsanten Einzelbeobachtungen abgesehen vermitteln seine Essays auch etwas von der fiebrigen Begeisterung, die die Gewerbeausstellung in den besseren Kreisen der Berliner Gesellschaft bereits lange vor, aber auch nach ihrer Eröffnung auslöste. Es dreht sich „gegenwärtig alles um die Ausstellung“, stellte Kerr im April 1896 fest und fand dann seine Beobachtungen im Abstand von einigen Wochen immer wieder aufs Neue bestätigt. „Berlin hatte einen einzigen Gedanken und eine einzige Wallfahrt: Treptow“, schrieb er über den Eröffnungstag und bemerkte Wochen später „Die Ausstellung lockt [...] mit Zaubergewalt. Man entdeckt bei jedem Besuch unerforschte große Gebiete, in denen man gern verweilt.“[17]

Die Suche nach einem geeigneten Platz sowie die Frage seiner adäquaten Bebauung erwiesen sich als ähnlich konfliktbeladen wie die Vorgeschichte der gesamten Ausstellung. Erst Ende April 1894 hatte man sich zwischen verschiedenen Szenarien und unterschiedlichen Varianten für den Treptower Park entschieden. „So anziehend der Ort durch seine freie Lage, seine Nachbarschaft zur Spree und seine schöne Parkanlage ist, bei der Besetzung desselben mit den für die Ausstellung erforderlichen Bauten ergaben sich nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten“, klagte etwa das offizielle Centralblatt der Bauverwaltung.[18] Das nur wenige Jahre zuvor in einen Volkspark transformierte Areal von etwa 1,1 Millionen Quadratmeter Größe (1,5x0,8 Kilometer) wurde für die Zeit der Ausstellung vollständig in eines der bis dato größten Ausstellungsgelände der Welt umgewandelt – größer als das Gelände 1889 in Paris, lediglich Chicago 1893 war noch umfangreicher.

Insgesamt wurden im Treptower Park innerhalb kürzester Zeit etwa 300 temporäre Strukturen und Ausstellungspavillons unterschiedlicher Größe errichtet.

004 gewerbeausstellung

Das Hauptgebäude und der eigens angelegte Neue See fungierten dabei als der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Geländes. Sie wurden entlang einer großen west-östlichen Hauptachse ausgerichtet, die ihre Fortsetzung jenseits des Sees in einem großen Hauptrestaurant mit Aussichts- und Wasserturm sowie, noch weiter östlich, mit dem Theater „Alt-Berlin“ und der retrospektiven Sektion „Alt-Berlin“ selbst fanden. Für letztere zeichnete der Verein für die Geschichte Berlins maßgeblich verantwortlich. Weitere Pavillons, beispielsweise das Gebäude für Chemie und Optik und das Gebäude für Fischerei und Nahrungsmittel befanden sich in nördlicher Richtung. Auch der Stadt Berlin selbst stand ein eigener Ausstellungspavillon zur Verfügung. Mit Hilfe von Modellen, Diagrammen, Fotografien und Karten sollten der interessierten Öffentlichkeit kürzlich eingeweihte öffentliche Gebäude wie Schwimmbäder und Krankenhäuser, aber auch Schulformen und -programme, Kanalisation und Wasserversorgung sowie eine Vielzahl administrativer Maßnahmen und Aktivitäten vorgestellt werden, für die die Stadtverwaltung verantwortlich zeichnete.[19] Drei zusätzliche und besonderes Aufsehen erregende Sektionen waren nicht Teil des eigentlichen Hauptgeländes, sondern von diesem jeweils durch eine Straße abgetrennt: Im Osten befand sich eine große Kolonialausstellung von 260x380 Metern Größe mit den international längst üblich gewordenen „Eingeborenendörfern“, die dem offiziellen Bericht zufolge „bei der Mehrzahl der Besucher das grösste Interesse“ erweckte, „denn der ‚Wilde’ war ihnen noch niemals so greifbar nahe gebracht wie hier.“[20] In nördlicher Richtung grenzte darin unmittelbar ein großer Vergnügungspark sowie im Süden die „Sonderausstellung Kairo“ (170x200m) an. Das gesamte Gelände wurde von einem hohen Holzzaun umgeben, der die Ausstellungsstadt unzweideutig von der umgebenden Stadt abgrenzte.[21]

Jede retrospektive Ausstellungsanalyse gleicht selbst einem virtuellen Ausstellungsbesuch. Da unendlich viele unterschiedliche Wege über das Areal möglich sind und jedes einzelne Exponat prinzipiell in Raum und Zeit zu verorten ist, können beide niemals erschöpfend sein. Auch auf die Gefahr hin, damit der Berliner Gewerbeausstellung in toto nicht gerecht zu werden und so eine Vielzahl aufschlussreicher und tendenziell genauso ‚analysewürdiger’ Untersektionen und Einzelexponate gezielt außer acht zu lassen – zu denen etwa der Nachbau des Kaiserschiffes „Bremen“, das bis heute längste Linsenfernrohr der Welt in der Archenhold-Sternwarte, die Marineschauspiele, Hagenbecks „Eismeer-Panorama“, „Dr. Wölferts lenkbarer Aerostat ‚Deutschland’“, die Ausstellung des Vereins für Feuerbestattung, die Aufsehen erregende „Kinder-Brutanstalt“ und viele andere Spektakel zählen – müssen im Folgenden einige wenige Bemerkungen zu zwei der drei letztgenannten „Special-Ausstellungen“ ausreichen: Kairo und Alt-Berlin.[22]

Die privat betriebene Sonderausstellung Kairo stand für die direkte Übernahme eines Ausstellungssegmentes, das sich andernorts bereits bewährt hatte, in diesem Fall die berühmt-berüchtigte Rue du Caire, die als vermeintlich authentisches Replikat einer mittelalterlichen Straße auf der Pariser Exposition Universelle von 1889 für großes Aufsehen gesorgt hatte.[23] In der Nachfolge wurden ähnliche „Straßen von Kairo“ nicht nur zu unterschiedlichen Gelegenheiten in Paris, sondern auch in Chicago, London, St. Louis und eben in Berlin errichtet. Offiziellen Angaben zufolge wurde die hiesige Version zeitweilig von über „500 Aegypter[n] der verschiedensten Rassen“ bewohnt.[24]

005 gewerbeausstellungDer eigentliche clou dieser Sonderausstellung bestand in einem hohlen, immerhin 38 Meter hohen Nachbau der Cheopspyramide aus angestrichenem Zement, von der allerdings nur eine Hälfte errichtet worden war. Dem geneigten Besucher/Betrachter erschloss sich die visuelle Illusion einer kompletten Pyramide im Treptower Park nur dann, wenn er sich auf dem Ausstellungsgelände selbst befand und in südlicher Richtung blickte – ein veritables trompe-lœil und Potemkin’sches Dorf zugleich. Im Kontext der Gesamtausstellung erfüllte diese Pyramide eine gleich vierfache Funktion: Erstens erhob sie den Anspruch auf weit reichende Authentizität und trug so zum „Realitätseffekt“ (Roland Barthes) des gesamten Ensembles bei. Zweitens diente sie als Hintergrund, Bühnenbild und Staffage für die in der davor gelegenen Arena täglich mehrfach veranstalteten spektakulären Kamel- und Pferdeshows. Drittens fungierte sie mit zwei in ihrem Inneren ausgestellten Mumien selbst als ein eigener, zusätzlicher Pavillon. Und viertens ermöglichte sie den Besuchern einen panoramatischen Überblick über das gesamte Gelände wie auf die umgebende, ausstellende Großstadt.006 gewerbeausstellung „Die Pyramide“, erklärte der offizielle Ausstellungsführer, „kann übrigens mittels elektrischen Aufzuges bestiegen werden und man hat von ihrem Plateau aus eine interessante Fernsicht über Berlin wie den Treptower Park mit seinen Ausstellungshallen.“[25]

Obgleich die Berliner Version letztlich größer, umfangreicher und diversifizierter als das ‚Original‘ war, funktionierte Kairo nach exakt denselben Prinzipien wie der Pariser Prototyp – mit dem einen entscheidenden Unterschied, dass ‚realgeschichtlich‘ bis zur Faschodakrise 1898 Briten und Franzosen in Ägypten um Einfluss konkurrierten, nicht das Deutsche Reich. Zumindest in einem engeren Sinne entbehrte eines solche Sektion in Berlin jedweden soziopolitischen Kontextes. Gleichzeitig war Kairo ähnlich wie die Kolonialausstellung von immenser konzeptioneller Bedeutung. Gezielt wurde hier der Rahmen einer ‚nur‘ lokalen oder nationalen Ausstellung überschritten, sodass sich die Organisatoren dem ursprünglichen Ziel einer Berliner Weltausstellung zumindest ex post durchaus näher gekommen sahen.

Als direkter Kontrast zu den beiden exotistischen Ensembles fungierte die Sektion „Alt-Berlin“. Hier war nach Plänen des renommierten Architekten Karl Hoffacker (1856–1919) am Nordrand des Karpfenteiches „in historischer Treue“ eine kleine, vermeintlich spätmittelalterliche Stadt von immerhin 4,5 Hektar Größe entstanden. Von hohen, zinnenbewehrten Mauern umgeben und den Besuchern nur durch zwei Tore, das Spandauer und das Georgenthor, zugänglich, hatte man eine Vielzahl unterschiedlicher Gebäude vollständig aus Gips errichtet. Dazu zählten neben den beiden Toren die Kirche „Zum Heiligen Geiste“ mitsamt Hospital, ein Zwinger, das alte Rathaus inklusive Ratskeller, verschiedene Bürgerhäuser sowie – als „eigentliches Wahrzeichen“ – ein massiver Rundturm. Im Gegensatz zu Kairo und der Kolonialausstellung sah Alt-Berlin imaginäres Reisen in der Zeit, nicht im Raum vor. Die mehr als 500 Angestellten wurden vertraglich verpflichtet, beständig historische Kostüme zu tragen. „Jeden Tag,“ hieß es, „sollen von 1 bis 11 Uhr abwechselnd Chor und Musik, Aufzüge und Turniere den Beschauern die Zeit vertreiben, so daß sie sich wirklich in das 17. Jahrhundert versetzt glauben.“ Ähnlich sprach der offizielle Führer von „einer anderen Welt“ und „längst vergangene Zeiten“, in die man sich in diesem Teil der Ausstellung unweigerlich transportiert fühlen werde.[26]

007 gewerbeausstellung Hatte sich der Verein für die Geschichte Berlins zunächst sehr für diese in der ursprünglichen Ausstellungskonzeption nicht vorgesehene retrospektive Sektion stark gemacht, sah er sich in der Folge aus finanziellen Gründen lediglich in der Lage, das sogenannte künstlerische „Protektorat“ zu übernehmen. Zu diesem Zweck wurde zwischen ihm, dem Arbeitsausschuss und einer neu gegründeten GmbH „Alt-Berlin“ ein entsprechender Pachtvertrag geschlossen. Gleichzeitig zeichnete der Verein jedoch für eine eigene, 100 Quadratmeter große „Sonderausstellung von Berolinensien“ verantwortlich, die in der Heiliggeistkirche gezeigt wurde. Unter Vorsitz seines Hauptschriftwartes, des Berliner Schriftstellers und Heimatforschers Dr. Hans Brendicke (1850–1925), hatten die Mitglieder des Vereins aus privaten Beständen mehr als 600 Exponate „von durchaus eigenartigem Interesse“ zusammengetragen. Darunter fanden sich etwa Bronzestandbilder, historische Karten und Stadtansichten, aber auch eher kuriose Devotionalien wie eine Schnupftabaksdose Friedrich des Großen, die man einer gewissen Heterogenität zum Trotz zusammen als „Reliquien aus den alten und neueren Zeiten Berlins“ verstanden wissen wollten. Von dem alles andere als konfliktfrei verlaufenen Engagement wurde ausführlich berichtet, nicht zuletzt in dieser Zeitschrift. 008 gewerbeausstellungEine zeitgenössische, ebendort publizierte Abbildung im Stile eines historischen Stiches verdeutlichte plastisch die in Alt-Berlin vorzufindende Vision einer idealisierten Vergangenheit, deren Besuch jedem Besucher nichts weniger als das „Nüchterne der Jetztzeit“ gänzlich hinter sich zu lassen versprach.[27]

Ähnlich wie im Fall der Sonderausstellung Kairo handelte es sich bei Alt-Berlin keineswegs um einen originären Beitrag zur sich stetig ausdifferenzierenden wie immer weiter kodifizierenden Sprache des Mediums Ausstellung. Seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre experimentierten Ausstellungsorganisatoren in ganz Europa zusehends mit solchen retrospektiven Sektionen: 1884 wurde im Rahmen der Turiner Esposizione generale italiana das Replikat eines mittelalterlichen Schlosses errichtet, die Londoner Colonial and Indian Exhibition von 1886 wies als viel beachtete Besonderheit eine sogenannte Old London Street auf, und für die 1889er Weltausstellung in Paris wurde gleich ein ganzes Modell der Bastille neu errichtet. Ähnliche „old villages“ und entsprechend unter Old London, Vieux Paris, Vieil Anvers oder eben Alt-Berlin fungierende Dörfer lassen sich unter anderem 1890 in Bremen, 1893 in Chicago, 1894 in Antwerpen, 1895 in Amsterdam, 1897 in Brüssel, 1900 in Paris, 1905 in Lüttich und 1908 in London nachweisen. Während das Konzept einer virtuellen Reise im Raum von Anfang an integraler Bestandteil des Mediums war, wurde die Möglichkeit des Zeitreisens als einer komplementären, aber dafür umso stärker herausgestrichenen Besonderheit erst sehr viel später entwickelt. Dass sich dieser Zitat- und Referenzcharakter sehr wohl dem internationalen, kaum aber dem lokalen Berliner Publikum erschloss, tat dem Erfolg von Alt-Berlin keinerlei Abbruch. Mit annähernd 1,8 Millionen verkauften Eintrittskarten erwies sich diese Sektion als eine der meistbesuchten und profitabelsten der gesamten Ausstellung.[28]

III. Flüchtiges Vermächtnis – die Stadt als Palimpsest

Exemplarisch für die diversen gescheiterten Berliner Weltausstellungsprojekte betrachtet, ist die Berliner Gewerbeausstellung, um Werner Sombart zu paraphrasieren, genau „deshalb so hervorragend interessant“, weil sie vieles nicht ist, vor allem im europäischen Vergleich: Von dem Riesenfernrohr der Archenhold-Sternwarte und der zeitgleich errichteten Oberbaumbrücke abgesehen hinterließ sie weder städtebauliche Überreste oder begründete eine spezifische Berliner Ausstellungstradition, noch schuf sie einen, dem Londoner Crystal Palace (1851–1936), der Wiener Rotunde (1873–1937), dem Pariser Champ de Mars mit dem Eiffelturm (1889–), dem Empire Stadium in Wembley (1923–2002) oder dem Brüsseler Atomium (1958–) vergleichbaren Gedächtnisort. Direkte konzeptionelle oder organisatorische Verbindungen zu dem 1904 in Berlin-Halensee eröffneten und immerhin 30 Jahre lang bestehenden Lunapark, der seinerzeit als Europas größter Vergnügungspark galt, ebenfalls eine „Straße von Cairo“ aufwies und wiederholt als Austragungsort von Völkerschauen fungierte, konnten bislang nicht nachgewiesen werden, auch wenn die Forschungslage hier mehr als dürftig ist.[29]

009 gewerbeausstellung Das entsprechende Wahrzeichen Berlins, der erst ab 1924 erbaute und im September 1926 anlässlich der Dritten Großen Deutschen Funkausstellung eröffnete Funkturm war seines Zeichens bereits eng an das französische Vorbild angelehnt und wurde entsprechend schnell zum „Eiffelturm von Berlin“ stilisiert.[30] Da sich die Organisatoren der Gewerbeausstellung gegenüber der Stadt hatten verpflichten müssen, das Gelände nach Abschluss der Ausstellung in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, wurden die errichteten Gebäude kurzerhand abgerissen und der eigens angelegte Neue See wieder vollständig zugeschüttet. Nur kurze Zeit nach dem offiziellen Abschlusszeremoniell am 15. Oktober 1896 war von dem „Unternehmen, das den ganzen Sommer über die Signatur der Stadt Berlin gebildet hatte“, wie es etwa in einer Zeitung melancholisch hieß, kaum mehr ein Überrest vorhanden.[31]

Auch in einer solchen, architekturhistorischen wie städtebaulichen Hinsicht stellte die Berliner Gewerbeausstellung im Kontext internationaler Ausstellungen in London, Paris oder Wien ein eher zweitrangiges und oftmals übersehenes Großereignis dar, selbst wenn ihre Organisatoren ganze Sektionen nach europäischen Vorbildern zu modellieren suchten und sich umgekehrt ungeheuer bemüßigt zeigten, ihr flüchtiges Werk gerade in solchen, lange zuvor etablierten internationalen Netzwerken verortet und rezipiert zu sehen. In einem nationalen und lokalen Kontext müssen Funktion und Bedeutung der Berliner Gewerbeausstellung freilich ungleich höher eingeschätzt werden, vor allem im Zusammenhang solcher Selbstfindungs- und Selbstverständigungsprozesse, die Heinz Reif als „innere Reichshauptstadtbildung“ bezeichnet hat. Gemeinsam mit dem Aufstieg von der preußischen zur deutschen Hauptstadt und der Entwicklung zu einer auch in technischer Hinsicht auf der Höhe der Zeit operierenden Metropole galt es, den altbekannten Berliner Minderwertigkeitskomplex abzuwerfen und dem neuen Hauptstadtstatus auch in repräsentativer Hinsicht gerecht zu werden. Erst dann war der nationale Zentralisierungsprozess abgeschlossen. Der generellen Flüchtigkeit des Mediums, dem Mangel an weit reichender internationaler Resonanz sowie dem Fehlen jedweder materiellen Vermächtnisse zum Trotz schien zeitgenössischen Beobachtern zufolge im Sommer 1896 der unmissverständliche Nachweis erbracht, dass Berlin eine „Weltstadtphysiognomie“ entfaltet habe und nunmehr mit globalen Metropolen wie London oder Paris auf Augenhöhe konkurrieren könne, wie Brendicke (1850–1925) wortreich befand. Möglicherweise analog zu einem anderen, präzise 110 Jahre später abgehaltenen Mega-Event, der Fußballweltmeisterschaft, vermittelte die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 der Reichshauptstadt das kollektive Gefühl, sich endlich zu einer wahren Weltstadt entwickelt zu haben – zumindest für einen Sommer.[32]

Bei näherer Betrachtung musste allerdings offenkundig werden, dass diese, hier so aufwändig in Szene gesetzte und dadurch erst erzeugte Form urbaner Modernität andernorts längst existierte, und dass man sie etwa in London oder Paris auf exakt dieselbe Art und Weise bereits Jahrzehnte zuvor zu Schau gestellt und gefeiert hatte. Es muss nicht zuletzt als höchst paradoxes Resultat der langwierigen und komplizierten Vorgeschichte der Berliner Ausstellung angesehen werden, dass sie im lokalen Kontext einerseits so effektiv zur feierlichen Selbstvergewisserung dienen und zur kollektiven Selbstverständigung über das Erreichte beitragen konnte, während sie andererseits zu einem Zeitpunkt stattfand, als das Medium im internationalen Kontext den Status des viel gefeierten dernier cri längst verloren hatte. Um 1900 galten internationale Ausstellungen schon lange nicht mehr als Inbegriff urbaner Modernität. Letzten Endes demonstrierte die Berliner Gewerbeausstellung vor den Augen der Welt somit das genaue Gegenteil dessen, was zu zeigen man beabsichtigt hatte. Nolens volens blieben alle so aufwändig evozierten Weltstadtgefühle im Provinziellen verfangen.

Wenn ihr Ort heute zuletzt nur wenig an Symbolwert verloren und kaum an Faszinationskraft eingebüßt hat, ist das nicht als das Vermächtnis der Gewerbeausstellung zu rechnen: 1946 und 1949 wurde an derselben Stelle eines der größten sowjetischen Kriegerdenkmäler außerhalb des Gebietes der ehemaligen UdSSR errichtet, dessen Anlage die Umrisse des Sees exakt nachzeichnet. Wo sich das Hauptrestaurant der Gewerbeausstellung befand, liegt der zentrale, mit Stalin-Zitaten versehene Mausoleumshügel dieser Gedenkstätte, unter dem alleine 200 der fast 5.000 dort begrabenen Rotarmisten ruhen. Auf diese Weise ist der Treptower Park als Ort auf symptomatische Weise gleich mehrfach in verschiedene und jeweils entsprechend unterschiedlich konnotierte Phasen Berliner Stadtgeschichte eingeschrieben und somit als ein weiteres Symbol für die „haunted city“ Berlin, das ebenso umstrittene wie zerrissene Selbstverständnis der Stadt und ihrer auch im internationalen Vergleich hochgradig politisierten urbanen Landschaft zu lesen.[33]

Prof. Dr. Alexander C.T. Geppert
New York University
Center for European and Mediterranean Studies
King Juan Carlos I of Spain Center
53 Washington Square South
New York, NY 10012
USA

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https://as.nyu.edu/cems/people/faculty.alexander-geppert.html


Bildunterschriften und Abbildungsnachweise:

  1. Offizielles Ausstellungsplakat, sogenanntes Hammerbild; Entwurf von Ludwig Sütterlin, Heimatmuseum Treptow.
  2. Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 im Treptower Park. Nach einer Zeichnung des Hrn. Malers Herwarth aufgenommen von H. Rückwardt, in: Deutsche Bauzeitung 30.34 (25. April 1896), zw. 208 und 209.
  3. Anzahl der Publikationen zur deutschen „Ausstellungsfrage“, 1877–1911.
  4. Offizieller Situationsplan der Berliner Gewerbe-Ausstellung, Berlin 1896, Heimatmuseum Treptow.
  5. Ludwig Max Goldberger (1848–1913), Verein Berliner Kaufleute und Industrieller.
  6. Aus der Vogelschau: Ausstellungs-Bahnhof und Kairo, Heimatmuseum Treptow.
  7. Gruss aus Kairo von der Berliner-Gewerbe-Ausstellung 1896, Postkarte.
  8. Innenraum der Heiliggeistkirche. F. Weinitz, Schlußwort zur Sonderausstellung von Berolinensien in Alt-Berlin auf der Gewerbe-Ausstellung 1896, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 13.11 (1896), 121–4, hier 123.
  9. „Alt-Berlin“ auf der Gewerbe-Ausstellung 1896 im Treptower Park, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 13.2 (1896), hier 21.
  10. Die Baukonstruktionen von Eiffelturm und Funkturm, in: Berliner Messe-Amt und Karl Vetter (Hg.), Der Berliner Funkturm: Worte und Bilder zum Werden und Wirken, Berlin 1926, hier 6–7.

Fußnoten:

  1. Zuerst veröffentlicht als Alexander C.T. Geppert, Weltstadt für einen Sommer: Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 im europäischen Kontext, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 103.1 (Januar 2007), 434–48.

    Eduard Spranger, Eine Berliner Generation, in: Der Tagesspiegel 301 (24. Dezember 1946), wiederabgedruckt in ders., Berliner Geist: Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen 1966, 11–19, hier 11. Der vorliegende Text basiert auf Teilen meines Buches Fleeting Cities: Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe, 2. Aufl., London: Palgrave Macmillan, 2013. Für eine detaillierte Diskussion des internationalen Forschungsstandes vgl. Alexander C.T. Geppert, Welttheater: Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue politische Literatur 47.1 (2002), 10–61. Die inzwischen sehr umfangreiche Literatur zum Thema ist umfassend dokumentiert in ders., Jean Coffey und Tammy Lau, International Exhibitions, Expositions Universelles and World’s Fairs, 1851–2005: A Bibliography, 3. Aufl., 2006; URL: https://www.academia.edu/326623/International_Exhibitions_Expositions_Universelles_and_Worlds_Fairs_1851-1951_A_Bibliography.
  2. Exemplarisch Bruno Bucher, Die Ausstellungs-Frage, in: Westermann’s Illustrirte Deutsche Monats-Hefte 50 (April–September 1881), 79–90; Albert Brockhoff, Eine Weltausstellung in Berlin, Berlin 1880, 19.
  3. Heinz-Alfred Pohl, Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert und die Nichtbeteiligung Deutschlands in den Jahren 1878 und 1889: Zum Problem der Ideologisierung der außenpolitischen Beziehungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 97.3/4 (1989), 381–425.
  4. Waldemar Bonnell, Die Deutsche Gewerbeausstellung zu Berlin im Jahre 1844, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 4 (1893), 35–9; Die Eröffnung der Berliner Ausstellung, in: Vossische Zeitung 203 (1. Mai 1896, MA), 1; Georg Bobertag, Eine Weltausstellung in Deutschland: Beiträge zur Geschichte des Berliner Weltausstellungsplanes in vier Vorträgen, Berlin, Berlin 1892, hier 63 [in: GStA PK, I. HA Rep. 120 MfHuG, E XVI 2 Nr. 13 F: Veranstaltung einer Weltausstellung in Berlin, Bd. 1, 187–238]; Sabine Bohle-Heintzenberg, Berlin und die Weltausstellung oder: Der Moabiter Ausstellungspark, in: Andreas Beyer, Vittorio Lampugnani und Gunter Schweikhart (Hg.), Hülle und Fülle: Festschrift für Tilmann Buddensieg, Alfter 1993, 63–81; Holger Steinle, Das Moabiter Ausstellungsgelände, in: Die Bauwelt 77.6 (1986), 202–5.
  5. N. Vogel, Bericht, betreffend das Ausstellungswesen, in: Sitzungsberichte des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes 61 (2. Oktober 1882), 253–72, hier 263.
  6. Am 3. März 1937 notierte Goebbels in seinem Tagebuch, offenbar nach einer entsprechenden Konversation mit Hitler: „Weltausstellung Berlin noch nicht zu planen. Erst, wenn Berlin fertig gebaut ist, in 15 Jahren. Zudem meint Führer, Jahr 1943 kriegs- und spannungspolitisch zu riskant. Also aufschieben;” vgl. Joseph Goebbels, Tagebücher 1924–1945, Bd. 3: 1935–1939, München 1992, 1052.
  7. Ausführlich und mit weiteren Nachweisen Geppert, Fleeting Cities, 17–37.
  8. Johannes Schultze, Warum es in Berlin nicht zu einer Weltausstellung kam, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 67 (1971), 117–18.
  9. Deutscher Reichs-Anzeiger und königlich-preußischer Staats-Anzeiger (13. August 1892), 3.
  10. Kaiser Wilhelm II. an Graf von Caprivi, 20.7.1892, in: Norman Rich, M.H. Fisher und Werner Frauendienst (Hg.), Die Geheimen Papiere Friedrich von Holsteins. Bd. 3: Briefwechsel (30. Januar 1861 bis 28. Dezember 1896), Göttingen 1961, 375–6.
  11. Ebd.
  12. Die Anlage und die Bauten der Berliner Gewerbe-Ausstellung des Jahres 1896 I, in: Deutsche Bauzeitung 30.34 (25. April 1896), 209–11, hier 209.
  13. Öffentliche Versammlung zur Diskussion der Frage einer Berliner Ausstellung 1896/97 abgehalten am 10. November 1892 im grossen Saale des Kaiserhofes, in: Jahresberichte des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (1892/93), 28.
  14. L‘Exposition de Berlin, in: Revue de Paris 3.12 (15. Juni 1896), 887–902, hier 887.
  15. Die Einnahmen der Berliner Gewerbe-Ausstellung, in: Berliner Morgen-Zeitung und Tägliches Familienblatt 246 (18. Oktober 1896); Arbeits-Ausschuss: Fritz Kühnemann, Bernhard Felisch und Ludwig Max Goldberger (Hg.), Berlin und seine Arbeit: Amtlicher Bericht der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896 zugleich eine Darstellung des gegenwärtigen Standes unserer gewerblichen Entwicklung, Berlin 1898, hier 181.
  16. Vossische Zeitung 217 (9. Mai 1896, MA).
  17. Alfred Kerr, Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900. Hg. von Günther Rühle, Berlin 1997, hier 141, 148, 167.
  18. Beides kann hier weder ausführlich referiert noch diskutiert werden; vgl. aber Geppert, Fleeting Cities, 37–44. Die Berliner Gewerbeausstellung 1896, in: Centralblatt der Bauverwaltung 15.15 (13. April 1895), 153–6, hier 153; ebd., 16.8 (22. Februar 1896), 77–9.
  19. Die Sonderausstellung der Stadt Berlin auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, in: Deutsche Bauzeitung 30.75 (19. September 1896), 475–6; Die Berliner Gewerbeausstellung VIII, in: Centralblatt der Bauverwaltung 16.30 (25. Juli 1896), 330–3.
  20. Arbeitsausschuss der Deutschen Kolonial-Ausstellung: Graf v. Schweinitz, C v. Beck, F. Imberg, G. v Meinecke (Hg.), Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896: Amtlicher Bericht über die erste Deutsche Kolonial-Ausstellung, Berlin 1897, 356.
  21. Die Bautechnik auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, in: Deutsche Bauzeitung 30.60 (25. Juli 1896), 382–3.
  22. Für einen Einstieg am besten geeignet: Bezirksamt Treptow von Berlin/Heimatmuseum Treptow (Hg.), Die verhinderte Weltausstellung: Beiträge zur Berliner Gewerbeausstellung 1896, Berlin 1996; dies., Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Bildern, Berlin 1996. Sehr zu empfehlen ist ebenfalls der Dokumentarfilm Die Pyramiden vom Treptower Park: Die versunkene „Weltausstellung“ von Daniel und Jürgen Ast, 45 Min., Berlin 2005 aus der RBB-Reihe „Geheimnisvolle Orte.“
  23. Delort de Gléon, La Rue du Caire: L’Architecture arabe des Khalifes d’Égypte à l’Exposition universelle de Paris en 1889, Paris 1889.
  24. Illustrierter Amtlicher Führer durch die Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, Berlin 1896, 212.
  25. Ebd. Carl Stangen, Die Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896: „Kairo in Berlin“, in: Albert Kühnemann (Hg.), Groß-Berlin: Bilder von der Ausstellungsstadt, Berlin 1896/97, 129–41.
  26. Alt-Berlin G.m.b.H. (Berliner Gewerbeausstellung 1896): Unter dem Protektorate des Vereins für die Geschichte Berlins, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 12.7 (7. Juli 1895), 72–3; Amtlicher Führer, 201.
  27. Maximilian Rapsilber, Die Sonder-Ausstellung Alt-Berlin, in: Berlin und seine Arbeit, 861–6; Hans Brendicke, Bericht über die Sitzungen des Vereins, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 13.3 (1896), 34; ders., Führer durch die Sonder-Ausstellung von Berolinensien des Vereins für die Geschichte Berlins in der Heiliggeistkirche zu Alt-Berlin auf der Gewerbe-Ausstellung zu Berlin 1896, 2. Aufl., Berlin 1896; Ernst Müller, Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896, in: GStA PK, I. HA Rep. 120 MfHuG, E XVI 2 Nr. 13 Af, Bd. 1: Berliner Gewerbeausstellung, 141–56. Dazu ausführlich Geppert, Fleeting Cities, 52–6; jetzt auch Katja Zelljadt, Presenting and Consuming the Past: Old Berlin at the Industrial Exhibition of 1896, in: Journal of Urban History 31.3 (März 2005), 306–33.
  28. Franz Jaffé, Ausstellungsbauten, in: Handbuch der Architektur. 4. Teil, 6. Hbbd., Heft 4: Gebäude für Sammlungen und Ausstellungen: Archive, Bibliotheken und Museen; Pflanzenhäuser und Aquarien; Ausstellungsbauten, 2. Aufl., Stuttgart 1906, 559–744, hier 635, 727–9; Rapsilber, Sonder-Ausstellung Alt-Berlin, 865; ders., Offizieller Führer durch die Spezial-Ausstellung Alt-Berlin, Berlin 1896.
  29. Werner Sombart, Die Ausstellung, in: Morgen: Wochenschrift für deutsche Kultur 9 (28. Februar 1908), 249–56; Gerald R. Blomeyer und Barbara Tietze, ...grüßt Euch Eure Anneliese, die im Lunazauber schwelgt: Lunapark 1904–1934, eine Berliner Sonntagsarchitektur, in: Stadt – neue Heimat: Monatshefte für Wohnungs- und Städtebau 4 (1982), 32–7; Jürgen Weisser, Zwischen Lustgarten und Lunapark: der Volksgarten Nymphenburg (1890–1916) und die Entwicklung der kommerziellen Belustigungsgärten, München 1998, 279–83.
  30. Berliner Messe-Amt und Karl Vetter (Hg.), Der Berliner Funkturm: Worte und Bilder zum Werden und Wirken, Berlin 1926; Bernhard von Brentano, Der Eiffelturm von Berlin, in: ders. (Hg.), Wo in Europa ist Berlin? Bilder aus den zwanziger Jahre, Frankfurt am Main 1981, 125–7; Andreas Hoffmann, Das Ausstellungsgelände am Funkturm, in: Geschichtslandschaft Berlin 1.2 (1985), 98–114.
  31. Der Schluß der Gewerbe-Ausstellung: Die Feier im Kuppelsaale, in: Berliner Morgen-Zeitung und Tägliches Familienblatt 8.244 (16. Oktober 1896), 1; Einpacken!, in: ebd. 8.245 (17. Oktober 1896), 1.
  32. Heinz Reif, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung: „Tout Berlin“ 1871 bis 1918, in: Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann und Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation: Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt am Main 1999, 679–99, hier 684; Hans Brendicke, Zur Gewerbe–Ausstellung in Berlin, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 13.6 (1896), 66–8, hier 68.
  33. Marlies Schulz, Der Treptower Park, in: Senatsverwaltung für Bau und Wohnungswesen, Abteilung Vermessungswesen, Berlin (Hg.), Topographischer Atlas Berlin, Berlin 1995, 198–9; Brian Ladd, The Ghosts of Berlin: Confronting German History in the Urban Landscape, Chicago 1997, 194.