Das Wilhelm-Stift
Charlottenburg, Spandauer Damm 62
Von Gisela Scholtze
Das Stift gehört zu den ältesten sozialen Einrichtungen in Charlottenburg, die bis in unsere Zeit Bestand haben. Im Oktober kann es auf 128 Jahre zurückblicken, Anlaß genug, seine Geschichte zu beschreiben und an die Person zu erinnern, auf deren Initiative die Errichtung des Wilhelm-Stifts zurückgeht.
Eine junge Frau war es. In einem am 29. Oktober 1892 veröffentlichten Artikel in der Charlottenburger Zeitung " Schlesinger's Neues Intelligenzblatt" heißt es über sie:
"Abelone Jensen, Tochter eines Landwirts in Aarhus, wurde am 1. August 1829 geboren, verlor ihre Eltern in frühester Jugend, kam dann nach Kiel zu einer wohlhabenden Tante und wurde von dieser sehr strenge erzogen.
Erwachsen - übersiedelte sie zu ihrem in Sanssouci bei Potsdam lebenden Onkel, dem Hofgärtner Fintelmann, um diesen dessen gastliches Haus zu führen. Hier knüpfte sie enge Freundschaften mit hochgestellten Damen, welche ihr auch bis zu ihrem Lebensende - 5. Juli 1884 - treu und helfend zur Seite standen. (...)
Früh verwaist, hatte sie insbesondere tiefes Mitleid für ältere alleinstehende Damen, und aus diesem Mitleid entsprang die Idee, für die Errichtung eines Stiftshauses zu wirken." Sie selbst besaß freilich keine Mittel, um den Gedanken in die Tat umzusetzen, aber resignierend die Hände in den Schoß zu legen war ihre Sache nicht. Sie begann mit dem Vertrieb eines kleinen " Balsamine" heißenden Büchleins, das Bibelsprüche und Lieder zum Inhalt hatte.
Damit schaffte sie einen bescheidenen finanziellen Grundstock für ihr Vorhaben. Als ihr Onkel nach Charlottenburg versetzt wurde, zog sie mit ihm dorthin und lernte da die Königinwitwe Elisabeth (Gemahlin König Friedrich Wilhelms IV.) kennen. Sie gewann deren teilnehmendes Interesse für ihre Idee. Unter der Protektion Königin Elisabeths wurde das kleine Anfangskapital bei Wohltätigkeitsveranstaltungen auf 4000 Taler aufgestockt. Königin Elisabeth konnte außerdem ihren Schwager König Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm I., veranlassen, einen 18.500 qm großen zum Schloßgarten gehörenden Acker abzutreten, auf dem das Stift erbaut werden sollte.
Großzügige Geldspenden machten den Beginn der Bauarbeiten bald möglich. 1865/66 waren Arbeitskräfte billig, und Fabrikbesitzer stellten Material sehr preiswert oder sogar umsonst zur Verfügung. 1866 wurde ein Kuratorium gegründet, dem u.a. der Finanzminister von der Heydt als Vorsitzender und die Ministerfrauen von Roon und Gräfin von Arnim-Boitzenburg sowie der Präsident von Dechend angehörten, und eine Satzung verfaßt. Nachdem das Stift am 28. September bezogen worden war, fand am 28. Oktober 1867 in Gegenwart des Königs die feierliche Einweihung statt. Zu seinen Ehren erhielt die Anstalt den Namen Wilhelm's Stift. Schon 1868 wurde ein zweites Haus erbaut, 1874 ein drittes, 1884 ein viertes, und zum 25-jährigen Jubiläum 1792 konnte das "Haus V" bezogen werden. Nun war es 165 älteren Damen möglich, dort ihren Lebensabend zu verbringen. Wie die Damen dort lebten, wird in der 1905 erschienenen " Geschichte der Stadt Charlottenburg" von Wilhelm Gundlach folgendermaßen beschrieben:
" Die Anstalt (...) bietet (...) jeder einzelnen Stiftsdame eine vollständig in sich abgeschlossene Wohnung, bestehend aus einem Wohnzimmer, einer Schlafkammer und einer kleinen Küche, und schließt jeden Zwang zu einer Gemeinschaft des täglichen Lebens aus, fordert aber von den aufzunehmenden Damen, welche über 45 Jahre alt und mindestens fünf Jahre in der Provinz Brandenburg ansässig sein müssen, ein Eintrittsgeld von 320 Talern und den Nachweis einer gesicherten Jahreseinnahme von wenigstens 100 Talern.
Am Ende des zweiten Jahres fanden sich 23 Witwen und 38 Jungfrauen im Stift, 15 im Genusse von Freistellen, welche mit einem Gründungskapital von je 1500 Talern durch verschiedene Behörden für die Hinterbliebenen ihrer Beamten geschaffen worden sind."
Ursprünglich lautete die Adresse übrigens Spandauer Straße 10a, später 19. Das Grundstück reichte einst bis an die Straße. In dem Buch "Gesellschaft von Berlin, Hand- und Adreßbuch für die Gesellschaft von Berlin, Charlottenburg und Potsdam" (1898/90) finden sich die Namen folgender Insassinnen des Stifts:
Breithaupt, A., geb. Kühn, vw. Oberstabsarzt
v. Fischer-Treuenfels, I., geb. Walther, vw. Oberförster, Stiftsdame
v. d. Gablenz, M., geb. Roeser, vw. Major
v. Gizycki, M., geb. v. Stern-Gwiadowski, vw. Justizrat
v. Glasenapp, M., geb. Schmidt, vw. Gutsbesitzer
v. Mach, Clara Georgine Louise, Stiftsdame
v. Schleinitz, Freiin A., geb. v, Ruedgisch, vw. Regierungsrat, Stiftsdame
v. Valentini, Fräulein
Es sind nur wenige Damen, aber da es kein amtliches Adreßbuch war, erfolgte die Eintragung wohl freiwillig.
Bis zum Ersten Weltkrieg gab es für das Stift keine Sorgen. In der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen heißt es, daß das Wilhelm-Stift 1914 auf der Höhe seiner wirtschaftlichen Entwicklung stand mit seinen schuldenfreien Häusern und einem stattlichen Vermögen, von dem es das mietfreie Wohnen seiner mehr als 160 Bewohnerinnen bis zu ihrem Lebensende gewährleistete. Die Hungerjahre des Krieges und die Inflationszeit wirkten sich natürlich dann katastrophal aus. das Vermögen war nicht nur dahin, es war sogar ein Fehlbetrag entstanden.
Doch großzügige Spenden aus dem Inland und Ausland halfen über die schlimmsten Nöte hinweg. Nach der Einführung der Reichsmark gelang es dank der Zuwendungen des preußischen Ministeriums des Innern, der Disconto-Gesellschaft, des Reichspräsidenten von Hindenburg und der Mendelssohn-Bank, das Stift wieder auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen, wenn auch die Ausgaben für notwendige bauliche Reparaturen nicht von den Einnahmen gedeckt werden konnten. Sorgen gab es also noch immer. Ein Teil der Stiftsdamen verfügte nur über eine kleine Rente. Für sie wurde in der Schloßstraße ein Mittagstisch eingerichtet. Mietfrei wohnen konnten sie nach wie vor. So waren sie vor der dringenden Not bewahrt.
In der oben erwähnten Festschrift heißt es bezüglich dieser Jahre:
"Alle Zuwendungen, die dem Wilhelm-Stift zuflossen, und sparsamste Wirtschaftsführung erreichten, daß sich allmählich seine Verhältnisse festigten; es behielt seine finanzielle Selbständigkeit, wie es auch die seiner inneren Verwaltung unangefochten wahrte. Daran haben auch die Jahre unter der Diktatur Hitlers wohl einiges, aber nicht Entscheidendes, geändert."
Doch dann kam der Zweite Weltkrieg. Im November 1943 wurden die Häuser IV und V bei einem Fliegerangriff zerstört, 1945 die Häuser I und III von den Russen niedergebrannt. Nur das schwer beschädigte Haus II blieb erhalten.
Nach dem Krieg bemühten sich der Kuratoriumsvorsitzende Dr. Georg Burghart, Vizepräsident des Evangelischen Kirchenrats, und sein Nachfolger Dr. Mendelson, Kammerdirektor a.D., um Mittel für den Wiederaufbau. So konnte 1952 zunächst das Haus II instandgesetzt werden. In den Jahren 1954 bis 1959 entstanden die Häuser I, III und IV wieder. Nur auf die Wiedererrichtung des Hauses V wurde verzichtet. Opfer mußten erbracht werden: 1955 wurde ein etwa 1700 qm großer, an die Straße grenzender Teil des Gartens verkauft. Die darauf entstandenen Mietshäuser versperren nun einerseits die Sicht zur Straße, halten aber andererseits den Straßenlärm fern.
Nachzutragen ist noch, daß das Kuratorium 1949 den Anschluß an den Gesamtverband der Berliner Inneren Mission vollzog. Trotzdem blieb die Selbständigkeit des Wilhelm-Stifts gewahrt. So werden nach wie vor auch Angehörige anderer Konfessionen im Stift aufgenommen. Seit den siebziger Jahren wurden notwendige Modernisierungen und Instandsetzungen vorgenommen. Erforderlich war die Schaffung größerer Wohnungen mit zeitgemäßen sanitären Einrichtungen. Diese Vorhaben waren wiederum nur dank des tatkräftigen Einsatzes der Kuratoriumsmitglieder möglich.
Heute verfügt das Wilhelm-Stift über insgesamt 87 Wohnungen. Jede besteht aus zwei Zimmern, Küche und Bad - und ist natürlich zentralbeheizt. In fünf Wohnungen sind die Räume etwas größer. Sie sind für Ehepaare vorgesehen. In den anderen Wohnungen leben alleinstehende Damen. Mietfreies Wohnen ist heute nicht mehr möglich, doch ist der Mietzins niedrig. Das Stift versteht sich als Einrichtung für Menschen mit geringem Einkommen.
Aus: "Mitteilungen" 2/1996. Redaktion: Gerhild H. M. Komander 7/2003
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