12. Juni 2020

Aus einem Brief von Bernhard Wille an Gerhard Keinhorst vom 23. Juni 2018:

Im Januar 1945 kam die unangenehme Überraschung für mich, dass ich am 1. Februar 1945 zum Volkssturm eingezogen werden sollte. Meine Zurückstellung bis 30. Juni 1945 interessierte niemand mehr, jeder Mann zwischen 16 und 60 Jahren musste, wenn er nicht den Kopf unter dem Arm trug, zum Volkssturm. Hier war ich der einzige junge Mann unter lauter Männern, die altersmäßig meine Väter hätten sein können.

Als es am Morgen des 20. April 1945 hell wurde, ging es los. Inzwischen hatten die Russen Berlin eingeschlossen und griffen auch von Südwesten an. Wir wurden zunächst in Kleinmachnow eingesetzt. Unsere nächste Einsatzstelle war im Fischerhüttenweg zwischen Schlachtensee und Krumme Lanke. Die beiden Seen liegen nicht weit auseinander und diesen Engpass sollten wir verteidigen. Einen Tag lang waren wir dort, dann wurde es kritisch und am Abend und in der Nacht zogen wir uns durch den Grunewald zurück.

Wir erreichten dann Spandau und als es hell wurde, verkündete unser Kompanieführer, dass wir unsere Waffen an Soldaten der Wehrmacht abgeben sollten, die aus einem Lazarett entlassen worden waren und keine Waffen hatten. Danach sollten wir uns bei Bewohnern Zivilkleidung besorgen. Meine Bitte hatte nicht gleich bei den Bewohnern der ersten Wohnung Erfolg, aber dann gaben mir Mieter eine grüne Hose und eine schwarze Jacke. Schuhe bekam ich nicht. Deshalb steckte ich die Hosenbeine nicht in die Schächte, sondern darüber. So war nur noch das Leder der Füße zu sehen. In ihre Wohnung ließen mich die Leute nicht, ich zog mich im Treppenhaus um. Sie hatten wohl Angst, Hilfe zur Fahnenflucht zu leisten. Denn trauen konnte man damals niemandem. Ein Kamerad, mit dem ich mich zusammengetan hatte, schlug vor, zu einer nahe gelegenen Bierbrauerei zu gehen und dort das Ende der Kämpfe abzuwarten. Auf dem Weg dorthin schlug hinter uns eine Granate ein. Ich spürte, dass etwas gegen meine rechte Kniekehle geflogen war. Es tat kaum weh und es verursachte nur eine rote Stelle auf der Haut. Aber in meiner Hose war ein Loch ca. so groß wie ein 2 Cent-Stück. Das Loch habe ich später kunststopfen lassen und bin mit der Hose dann sogar zur Tanzstunde gegangen. Denn aus meinen Sachen bin ich während der Uniformzeit herausgewachsen. Wir erreichten die Brauerei und gingen in einen Keller, wo schon viele Leute waren. Dort lagerten große Tanks, ich kroch in die hinterste Ecke und legte mich, soweit es ging, auf den Boden unter einen Tank. Dort schlief ich dann nach den Anstrengungen der letzten Zeit viele Stunden lang. Als die Russen Spandau erobert hatten, kamen auch welche in den Keller. Wir sahen uns nicht, aber ich konnte sie sprechen hören. Später verließen wir den Keller und lebten in einer Wohnung in der Brauerei. Nach ca. einer Woche, als sich alles etwas beruhigt hatte, machten wir uns wieder durch den Grunewald auf den Weg nach Zehlendorf, wo wir am Nachmittag ankamen. Unterwegs begegnete uns ein Russe auf einem Pferd. Uns rutschte gleich das Herz in die Hose, aber er beachtete uns nicht und ritt im Galopp an uns vorbei. Mit meiner glücklichen Heimkehr nachhause war für mich und meine Familie der Krieg zu Ende. Er ging aber noch ein paar Tage weiter bis zum 8. Mai 1945.

Mein Vater war nicht beim Volkssturm, aber natürlich auch für den Krieg eingesetzt. Er war nämlich Hilfspolizist. Er lief in Polizeiuniform in den Straßen von Zehlendorf herum, aber nur am Tag. Als die Russen sich Zehlendorf näherten, musste er etwas tun. Er hätte sich zu Hause Zivilkleidung anziehen können, aber das war zu gefährlich, weil er dort bekannt war. Man konnte keinem trauen. Er fuhr deshalb zu einer meiner Tanten nach Kreuzberg. Dort zog er sich Zivilkleidung an und ging, als es nötig wurde, in den Luftschutzkeller. Als die Russen den Bezirk Kreuzberg erreicht hatten, kamen sie natürlich auch in den Luftschutzkeller. Mein Vater hatte seine Armbanduhr um und wegen der zu kurzen Ärmel war sie gut zu sehen. Leider, denn ein Russe nahm sie ihm sofort weg. Die Russen waren ganz wild auf Uhren und Fahrräder, obwohl sie nicht Radfahren konnten.

Der Krieg war vorbei und nun begann die Nachkriegszeit. Genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar, wurde schon vor Kriegsende geredet. Leider war diese Vorhersage richtig. Jetzt begann die Hungerzeit und das große Frieren. Gut am Frieden war nur, dass es keine Luftangriffe mehr gab und an den Fronten nicht mehr geschossen wurde. Heizmaterial gab es fast nicht, Gas war rationiert. So war es für alle Menschen in Berlin. Dazu kamen unsere persönlichen Schicksalsschläge.

 

Aus einem Brief von Bernhard Wille an Gerhard Keinhorst vom 01. Juni 2020:

Für mich war es sehr wichtig, dass man ab 8. Mai 1945 ohne Fliegeralarm durchschlafen konnte. Ein großer Teil der Tage ging dabei drauf, sich Nahrungsmittel zu besorgen. Auf dem Wochenmarkt standen die Menschen schon an, wenn die Händler noch gar nicht da waren. Und das manchmal über Stunden und auch vergeblich, weil gar kein Händler mit Ware kam. Beliebt war es auch, im Umland zu Bauern zum „Hamstern“ zu fahren. Wir fuhren mit Fahrrädern und wollten mit den erworbenen Sachen nach Hause fahren, als wir von einem Russen angehalten wurden. Wir, das waren meine Mutter und ich. Über den Lenkstangen hatten wir Netze mit Gemüse hängen. Der Russe kam an mein Rad und zerrte an den Netzen. Ich wunderte mich darüber, bis ich endlich begriff, dass er nicht die Netze, sondern mein Fahrrad haben wollte. So konnte ich das Gemüse behalten und mein Fahrrad war ich los. Der Russe hatte schon ein Damenfahrrad, das einen Plattfuß hatte. Das warf er mir hin und ich nahm es mit nach Hause. Den Plattfuß reparierte ich und später erneuerte ich noch einige andere Dinge, als man wieder Ersatzteile kaufen konnte. Ich fuhr dann mit dem Rad meines Vaters und, als meine uns Schwester Irmgard aus Bremen besuchte, fuhren wir gemeinsam in den Grunewald. Zu der Zeit war Zehlendorf amerikanischer Sektor geworden. Damals wurden auch Einwohner zu Arbeitseinsätzen abkommandiert. Eine Bezahlung in irgendeiner Art gab es dafür nicht. Einmal musste ich mit anderen Männern einen riesigen amerikanischer Sattelschlepper voll mit Zementsäcken entladen. Ein Sack wiegt bekanntlich 50 kg. Wir haben die Säcke immer mit zwei Mann getragen. Die amerikanischen Soldaten haben zugeschaut und Zigaretten geraucht. Wir haben sie um etwas zu essen gebeten, aber sie haben uns nichts gegeben. Auch keine Zigaretten. Halb aufgeraucht haben sie sie auf die Erde geworfen um zu sehen, ob wir sie aufheben. Den Gefallen haben wir ihnen aber nicht gemacht. Einmal bekamen sie einen Rappel und haben selbst ein paar Säcke abgeladen. Sie haben einen Sack natürlich allein getragen und im Laufschritt. Kräftige junge Männer und nicht so ausgemergelt wie wir. Das war kein guter Einstand der Amerikaner bei uns. Aber im Grunde waren wir natürlich froh, die Russen los zu sein. Und wir bekamen mehr Strom. Jeden Tag von 18.00 bis 22.00 Uhr. An den Lebensmittelrationen änderte sich aber leider nichts. Wir waren wie freilebende Tiere immer auf Nahrungssuche.