19.05.2020
Dr. Kurt Wernicke
Als am Bahnhof Friedrichshagen zum Kampf um die Schöneicher Straße eine Flak-Batterie aufgefahren war, die die Verwandlung der Straße in ein Gefechtsfeld erahnen ließ, siedelte ich mit meiner Familie am 21. April 1945 in das Ortsinnere Friedrichshagens um. Unterschlupf wurde in der Wilhelmstr. (heute Peter-Hille-Str.) 67 bei Freunden gefunden. Von dort her erkundete ich am Vormittag des 22. April die Lage in der Schöneicher Straße und fand die zur Panzerabwehr am Bahnhof stationierte Flak-Batterie gegen 10.00 Uhr in Abbau und Abmarsch begriffen. In die Wilhelmstraße zurückgekehrt, um die Botschaft zu überbringen, geriet ich in die Menschentraube, die in der nahe gelegenen Turnhalle des König-Friedrich-Gymnasiums ein dort untergebrachtes Depot mit Unterwäsche und Küchengerätschaften plünderte.

Gegen 14.00 Uhr tauchten in der Wilhelmstraße die ersten Rotarmisten auf – Aufklärer in den für diese Truppe typischen Tarnanzügen. Die ihnen nachmittags folgenden Infanteristen konzentrierten sich auf die Abforderung von Uhren und die Requirierung von Fahrrädern - mit denen sie durch die Straße radelten. Nur wenig belastet durch diese zu verkraftenden Verluste und zutiefst erleichtert über das Ausbleiben des befürchteten Schlachtengetöses, machte sich der Trupp meiner Verwandten auf, um in seine Behausungen in der Schöneicher Straße zurückzukehren, geriet dort aber in eine wahre Plünderungsorgie; trunken vor Glück über ihre Befreiung nahmen sich vorherige „Ostarbeiter“ den Wohnstätten ihrer deutschen Ausbeuter an, bedienten sich an allem, was Gebrauchswert hatte und amüsierten sich über das Wehgeschrei der Betroffenen, ja, bedrohten diese - nicht nur mit Worten. Die die Heimkehr in das vertraute Wohnumfeld anstrebende Gruppe wandte sich nach dieser Erfahrung sogleich wieder der Wilhelmstraße zu, um dort auf die erhoffte Wiederkehr von irgendeiner Form von Autorität zu warten, die sich dann tatsächlich am 28. April ganz offiziell zu Wort meldete: Große Anschläge verkündeten den Befehl Nr. 1 des eben ernannten sowjetischen Stadtkommandanten Generalmajor Nikolaij E. Bersarin, der u. a. auch Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung untersagte. Schon am nächsten Tag (in der Innenstadt tobte noch die für den Berliner Südosten geplante Schlacht) konnte ich auf der Route Hirschgarten – Wuhlheide – Karlshorst - Friedrichsfelde unbehelligt einen Erkundungsausflug zu den Großeltern am Bahnhof Lichtenberg unternehmen. Ich stellte dabei fest, dass die Behauptung in dem Hitler‘schen Aufruf vom 15. April, der bolschewistische Feind habe, erschöpft wie er sei, seine allerletzten Reserven für die Schlacht um Berlin mobilisiert, wohl kaum zutreffen könne. In Friedrichsfelde, also etwa 10 km hinter der heiß umkämpften Frontlinie in der Innenstadt, waren Straßenkreuzungen zur Sicherung gegen kaum noch zu erwartende Gegenangriffe der Berlin-Verteidiger mit gefechtsbereiten Panzerabwehrgeschützen besetzt!

Mit der Rückkehr in die Schöneicher Straße wartete meine Familie bis zum 9. Mai, nachdem in der Nacht zuvor die Rotarmisten durch Freudensalven aus allen Gewehrläufen auch der deutschen Bevölkerung (die, wie in allen Besatzungszonen, schon in der ersten Woche nach der Einnahme alle Rundfunkgeräte hatte abliefern müssen) signalisiert hatten, dass der Krieg offenbar sein Ende gefunden hatte. Als wir den Bahnhof Friedrichshagen passierten, stellten wir fest, dass sich in der einstigen Flakstellung nach dem am 2. Mai erfolgten Ende der Schlacht um Berlin eine Einheit sowjetischer Sturmgeschütze eingerichtet hatte, die das Restaurant „Hubertus“ nun ebenso als Unterkunft nutzte, wie es vorher die Soldaten der zum Erdkampf bestimmten Flak-Batterie getan hatten. Und am Rand der Krummendammschen Heide (der bis heute mit der Nordseite der Schöneicher Straße identisch ist) waren junge Männer in Zivil zu beobachten, die von Rotarmisten mit militärischem Drill bekannt gemacht.