Vorwort von Jörg Kluge
Die Vorträge die vom Verein in der Zentralen Landesbibliothek Berlin veranstaltet werden haben ab und zu einen „Aha-Effekt“. So geschah es im Falle der Familie Hirschmann in Person des Enkels Tomas S. Hirschmann aus Guatemala.

Der Anlass war die Präsentation des Buches „Boxhagen beginnt“ am 19.4.2017 durch Sven Heineman, Buchautor und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. In diesem Buch wird die Lebensgeschichte des jüdischen Industriepioniers Siegfried Fritz Hirschmann erzählt. Tomas S. Hirschmann war mit seiner Ehefrau zugegen. Im Gespräch auf dem Podium mit Sven Heinemann, war er als „Zeitzeuge“ gefragt. In diesen Gesprächen kam heraus,dass er der Neffe von alias Gabriele Tergit geb. Hirschmann verheiratete Elise Reifenberg war. Dieser Umstand brachte mich in Erinnerung auf die Lesung 2016 von Gerold Ducke und Anna Dieterich über Gabriele Tergit einen bewegentes Bild darboten.

Dies war der Anlass Gerold Ducke zu fragen, ob er dem Verein diesen Vortrag zur Verfügung stellen könnte. Das Ergebnis können Sie unten lesen. Herr Ducke vielen Dank dafür!

Zum Abschluß das folgenden Zitat von Tomas S. Hirschmann:
„.... Ich fühle heute das ich zu Berlin gehöre und darauf stolz sein kann.“
Tomas S. Hirschmann, 19.4.2017

Gabriele Tergit (1894-1982): Berliner Existenzen und Moden
Von Gerold Ducke

Als 1977 die West-Berliner Festwochen den Zwanziger Jahren gewidmet waren, lud der Moderator Walther Schmieding Zeitzeugen einer kulturell glanzvollen Epoche ins Charlottenburger Renaissance Theater: die Diseuse Blandine Ebinger, die Grotesktänzerin Valeska Gert, den Publizisten Axel Eggebrecht, den Komponisten Mischa Spoliansky und auch eine alte Dame, deren Namen ich zum ersten Mal in meinem Leben hörte. So wie mir dürfte es den meisten Zuschauern ergangen sein. Es war die Stunde der Wiederentdeckung der Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit, die in den 1920er Jahren Deutschlands erste Gerichtsreporterin war. Wie ihr Vorbild Paul Schlesinger (1878-1928), der unter dem Kürzel „Sling“ für die Vossische Zeitung schrieb und in der Weimar Republik eine Instanz der Justizkritik war, sah auch sie in dem, was vor Gericht verhandelt wurde, einen Spiegel der Zeit. Ihr bevorzugter Arbeitsplatz war das Kriminalgericht Moabit. Um nicht aufzufallen, habe sie zuerst bei den Verhandlungen kein Wort mitgeschrieben, sich alles gemerkt, die Namen der Angeklagten, die Dialoge, und dann aus dem Gedächtnis ihre Reportagen verfasst. Was die Tergit zu berichten hatte, wurde viel gelesen. Nicht zuletzt, weil hier zum ersten Mal eine Frau über Frauen vor Gericht schrieb.

„Moabit ist ein Ort der Männer. Als Subjekt und Objekt spielen Frauen eine sehr geringe Rolle. Sie sind weder Betrüger, noch Einbrecher, noch Hehler. Weder bestechen sie, noch vergehen sie sich im Amt, sie widerstehen nicht der Staatsgewalt, noch treiben sie Landesverrat. Ihr Gebiet ist das Ewige, die Liebe und der Klatsch. (…) Über allen sitzen Männer zu Gericht. Manchmal sitzt auch eine Frau als Schöffin da, um sich an der Urteilsfindung zu beteiligen. Immer noch sehr selten ist die Frau als Verteidigerin. Zu den Frauen vor Gericht gehören jetzt auch die Beamtinnen der Jugendgerichtshilfe, die den Verhandlungen beiwohnen und in der Stille viel Gutes wirken.“[1]

Gabriele Tergit wurde 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren, in der Raupachstraße, nahe dem heutigen Ostbahnhof. Keine besonders feine Gegend, aber ihr Vater schaffte den sozialen Aufstieg. Er gründete die Deutschen Kabelwerke, konstruierte und produzierte die „Cyclonette“, das erste deutsche Dreiradauto, und wurde ein reicher Mann. Elise jedoch wollte nicht die „höhere Tochter“ spielen. Sie strebte in die Berufstätigkeit, holte nach dem Ersten Weltkrieg ihr Abitur nach, studierte Philosophie und Geschichte und promovierte 1925 bei dem berühmten Historiker Friedrich Meinecke. Journalistin will sie werden, und dafür ist die Zeitungsstadt Berlin der ideale Ort. Keine andere Stadt hat in den 1920er Jahren so viele Zeitungen. Dreimal am Tag können die Berliner eine aktuelle Zeitung lesen. Es erscheinen 45 Morgenzeitungen, 14 Abendzeitungen und zwei Mittagszeitungen.

Gabriele Tergit schreibt (von 1925 bis 1933) für das Berliner Tageblatt, die Zeitung des liberalen Bürgertums, die im Verlag von Rudolf Mosse erscheint und eine Stütze der jungen Republik ist. Ihr Chefredakteur Theodor Wolff (1868-1943) ist eine herausragende Persönlichkeit, ein auch außerhalb Deutschlands bekannter und geachteter Leitartikler, der liberale und demokratische Werte gegen religiösen und politischen Fanatismus verteidigt. Er bekämpft Nationalsozialisten und Kommunisten gleichermaßen, weil er, wie er sich ausdrückte, weder den rechten noch den linken Fuß eines Diktators auf seinem Nacken spüren möchte. Zum Berliner Tageblatt zu gehören, galt damals als eine große Sache. Es war Gabriele Tergits glücklichste Zeit, ihre (wie sie in ihren Erinnerungen schreibt) „sieben fetten Jahre“.[2]

Außer Gerichtsreportagen schreibt sie Feuilletons über „Berliner Existenzen und Moden“. Sie lesen sich heute wie Spaziergänge durch ein verschwundenes Berlin, obwohl der Berliner Wahnsinn von damals dem heutigen oft zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Tergit lässt sich durch die Straßen und Cafés treiben, besucht Premieren, Empfänge und Gesellschaften der Schickeria, beobachtet das hektische, rotierende Treiben der Großstadt, schnappt Sätze und Dialoge auf, montiert alles zusammen, temporeich und treffsicher, und vor allem unterhaltsam. Und in jeder Zeile spürt man die Liebe zu ihrer Heimatstadt Berlin. Sie ist dankbar, in dieser Stadt leben zu dürfen, „bewegt und bereit, heißen Herzens, aufgetanen Geistes, zu lächeln, zu schreiten und diese Luft zu atmen aus Freiheit, Frechheit und Benzin.“ [3]

Als der Autor Jens Brüning (1946-2011), der Gabriele Tergit der Vergessenheit entrissen und ihr Werk wieder zugänglich gemacht hat (wofür ihm großer Dank gebührt), sie 1981 in London besuchte und auf eine Neuveröffentlichung ihrer Feuilletons ansprach, erklärte sie, die habe sie doch schon alle in ihrem ersten Roman verarbeitet: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (1931 bei Rowohlt erschienen und 2016 im Schöffling Verlag neu aufgelegt).
„Ich plante schon lange eine Satire, eine Satire auf den „Betrieb“, den ich für den Zerstörer aller echten Werte hielt. Ich wollte sozusagen Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ erweitern. Ich wusste doch von Anfang an, dass der „Betrieb“ eine grässliche Sache ist, die Reklame eine Leben zerstörende Angelegenheit. Das hat sich ja auch erwiesen, als dann Herr Goebbels dieses Ministerium für Reklame aufgemacht hat, Propagandaministerium: Ministerium für Reklame. Wenn die Nazis das nicht begriffen hätten, wären sie ja nie zur Regierung gekommen.“[4]

Der Berliner Volkssänger Georg Käsebier, Titelheld des Romans, tritt in der Hasenheide auf. Als ihn der berühmte Schriftsteller Otto Lambeck entdeckt, beginnt das, was man heutzutage einen „Hype“ nennen würde. Der begabte Künstler wird dabei zur Nebenfigur, Hauptdarsteller sind alle, die durch ihn groß ins Geschäft kommen wollen: Journalisten, Verleger, Agenten, Komponisten, Filmproduzenten ebenso wie die Hersteller von Hemden, Zigaretten und Käsebier-Puppen. Mit von der Partie sind auch die Banken, Immobilien-Haie und Baulöwen: Am Kurfürstendamm wird für den neuen „Shootingstar“ ein großes Varietétheater errichtet.

Gabriele Tergit verrät uns das „Betriebsgeheimnis“, denn sie hat gründlich recherchiert und weiß, wie alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt („Netzwerke bilden“ heißt das heute). Für den „Betrieb“ ist der Erfolg eine Sache der Suggestion. Nicht auf die Leistung kommt es an, sondern auf die Organisation des Geredes darüber. Und am Ende steht der große Zusammenbruch. Die Immobilienblase platzt, die Banken krachen, die traditionsreichen Handwerksbetriebe, die so stolz auf die Qualität ihrer Arbeit sind, können mit den Billiganbietern nicht mithalten und gehen vor die Hunde. Und auch Käsebiers Karriere ist ruiniert: Endstation ein Bierlokal in Cottbus. Das alles kommt einem bekannt vor, liest sich wie ein Gegenwartsroman.

Ist die Rede von der Literatur der Weimarer Republik, so fällt zumeist das Schlagwort von der „Neuen Sachlichkeit“ und es werden Namen genannt wie Erich Kästner, Irmgard Keun, Hans Fallada oder Alfred Döblin. Aber auch Gabriele Tergit sollten wir in diese illustre Reihe stellen, denn ihre Erzählkunst ist auf der Höhe der Zeit: Die Montagetechnik, das vielstimmige Erzählen und vor allem die Charakterisierung der Figuren und Verhältnisse durch den Dialog – das alles beherrscht sie meisterhaft. Darüber hinaus erfahren wir in ihrem Roman viel darüber, wie seinerzeit Zeitungen gemacht wurden in Berlin. Man spürt die große Liebe der Tergit zu ihrem Beruf, aber auch die Trauer darüber, dass eine ehrwürdige Tradition, geprägt von Persönlichkeiten wie Theodor Wolff und Rudolf Mosse (1843-1920), zu Ende gehen muss, wenn Reklame und Sensationsgier die Welt regieren. Für diese Tendenz, die auch das Berliner Tageblatt in seiner Existenz bedrohte, steht im Roman der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des „Rationalisierungsdikators“ Frächter, der die Presse nach amerikanischem Vorbild umorganisiert und als Ersten den Redakteur Miermann entlässt, einen Mann vom Schlage Theodor Wolffs: gebildet, liberal und geistreich. Für einen wie Frächter sind das Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert und stehen der Zukunft nur im Wege:

„Technik ist Trumpf! Mechanisierung. Mit Geist lockt man keinen Hund hinterm Ofen hervor. Wer will Geist? Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement. Jeden Tag eine andere Sensation, groß aufgemacht.“[5]

Beim Berliner Tageblatt (im Roman „Berliner Rundschau“ genannt) machten sie die Berlin-Seite zu dritt, die Kollegen und Freunde Gabriele Tergit, Rudolf Olden (1885-1940), der auch Rechtsanwalt war und Carl von Ossietzky vor Gericht verteidigte, und Walther Kiaulehn (1900-1968), dem wir eines der schönsten Berlin-Bücher verdanken: „Berlin – Schicksal einer Weltstadt“ (erschienen 1958). Kiaulehn wollte etwas für das Buch seiner Kollegin tun, es „pushen“, wie man heute sagen würde. In einem Artikel „enthüllte“ er „Käsebier“ als Schlüsselroman über den beliebten Berliner Volkskomiker Erich Carow (1893-1956), der im proletarischen Norden von Berlin, am Weinbergsweg, „Carows Lachbühne“ betrieb. Ihn hatte 1929 Heinrich Mann entdeckt (ähnlich wie im Roman der Schriftsteller Lambeck) und in einem Feuilleton für die Vossische Zeitung in den höchsten Tönen gepriesen: „Am Weinbergsweg verbirgt sich eine Groteske, die, wenn sie wollte, die Welt erschüttern könnte vor Lachen. Sie kann aber nicht fort von hier.“ [6]

Seit Heinrich Manns Lobgesang auf Carow stauten sich am Weinbergsweg die Luxusautos aus dem vornehmen Berliner Westen und Carow wurde für sensationelle 45 000 Mark Gage an die Scala in der Lutherstraße engagiert. So viel bekam sonst nur der weltberühmte Clown Grock. Aber Carow hatte nie im Leben daran gedacht, an den Kurfürstendamm zu gehen. Er war gekränkt, weil er nach Kiaulehns Artikel und Gabriele Tergits großem Bucherfolg ständig mit diesem Käsebier identifiziert wurde. Auch die Tergit war nicht erfreut darüber, war das doch genau die Art von Reklame, die sie in ihrem Buch anprangert hatte. Es ist kein Schlüsselroman über Erich Carow, aber einer über die letzten Lebensjahre der Weimar Republik, wie Rudolf Olden erkannte, als er am 25. November 1931 im Berliner Tageblatt schrieb:

„Vom Schluß her betrachtet ist dieser kleine Roman ein schauriges Gemälde der Zerstörung, die wir erleben, ein Zeitgemälde, so sehr er sich über ‚die Zeiten’ zu belustigen scheint. Ein Schlachten-Gemälde, Gemälde der Schlacht, die wir zu verlieren im Begriff sind.“[7]

Wie die Schlacht um die Republik verloren ging – das war auch im Kriminalgericht Moabit zu erleben, für Gabriele Tergit nach wie vor die wichtigste Quelle zur Erkenntnis der Zeit. Sie war dabei, als dort zum ersten Mal Hitler, Goebbels und andere Nazis vor Gericht standen.
„Ich habe vierzig Jahre lang über diesen Prozeß nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen und sie erschossen hätte, hätte ich fünfzig Millionen Menschen vor einem frühzeitigen Tod gerettet.“ [8]

Die Weimarer Justiz, überwiegend republikfeindlich, war und auf dem rechten Auge meistens blind und konnte oder wollte die ausufernde politische Kriminalität nicht in ihre Schranken weisen. So wütete der Terror in den Straßen Berlins und der Bürgerkrieg wurde zur Gewohnheit.
„Der Ausdruck der Nationalsozialisten ist der militärische. Das Zivilleben kennen sie nicht mehr. (…) Die Schlägereien in den Straßen Berlins wurden mit allem Glanz und Schimmer von Kriegshandlungen umgeben. Beispiel für viele sei Kuntze, der den sechzehnjährigen Lehrling Nathan totgeschossen hat. Als Kuntze von dem Vorsitzenden nach seinem Beruf gefragt wurde, antwortete er: ‚Ordonanz, Ordonanz des Standartenführers II.’ Erst langsam war zu erfahren, dass er Postaushelfer sei, verheiratet und Vater zweier Kinder. Das ist vollendete Kriegsmentalität. Wenn sie gefragt werden, wer sie sind, so antworten sie mit dem Armeerang im Bürgerkrieg. Sie sind SA-Mann oder SS oder Ordonanz oder auch nur HJ. Sie haben längst vergessen, dass sie Arbeitslose sind oder Verkäufer von Stoffen oder Buchhalter oder Postbeamte.“ [9]

Am 4. März 1933 gegen fünf Uhr morgens trommelte die SA an Gabriele Tergits Wohnung in Siegmundshof im Bezirk Tiergarten. Die Geistesgegenwart ihres Mannes und die Intervention eines Journalisten-Kollegen und eines Staatsanwalts (beides Nationalsozialisten) retteten ihr das Leben. Am nächsten Morgen packte sie die Koffer, und das Exil begann: Prag, Tel Aviv, schließlich 1938 die Übersiedlung nach London. Zehn Jahre später wird sie britische Staatsbürgerin. Nach Deutschland kehrt sie nur noch als Besucherin zurück. Berlin, ihre Heimatstadt, sieht sie 1948 wieder. Sie besucht auch das teilweise noch erhaltene Kriminalgericht Moabit, um einer Verhandlung beizuwohnen.

„Es handelte sich um einen Diebstahl unter kleinen Leuten, einen goldenen Ring mit einem Halbedelstein. Ich dachte, dafür dieser Aufwand? Ankläger, Richter, Gefängnis, Polizei. Hunderte, Tausende, Hunderttausende von goldenen Ringen waren in der ganzen Welt gestohlen worden, silberne Schüsseln, Gemälde und Teppiche zerbombt, verbrannt und in den halbzerstörten Häusern von Soldaten aller Armeen, von den lieben Nachbarn geraubt worden. Beute! (…) Konnte man so die Gerechtigkeit wieder aufbauen, ein halbes Dutzend Menschen beschäftigen, weil ein goldener Ring mit einem Halbedelstein den Besitzer ohne Bezahlung gewechselt hatte? En gros war erlaubt? En detail verboten? (…) Wo hatte man anzuknüpfen? Wer konnte sie vor Gericht ziehen, die SS-Leute, die in den letzten Tagen jeden, der nicht weiterschießen wollte, erschossen hatten? Die Generäle, die in längst verlorenen Schlachten neue Opfer zu den alten schickten? Wo waren Millionenwerte an gestohlenen Bildern, Schmuck, Möbeln geblieben? Und jetzt ging es um einen goldenen Ring mit einem Halbedelstein – lächerlich! [10]

Unmittelbar nach dem „Käsebier“-Roman hatte die Tergit damit begonnen, ermuntert durch ihren Verleger Ernst Rowohlt, eine große jüdische Familiengeschichte zu schreiben: Der Roman „Effingers“ erzählt knapp hundert Jahre deutsch-jüdische Geschichte, von 1878 bis 1942. Die Welt des frommen Uhrmachers Mathias Effinger im badischen Kragsheim wird durch Heirat verbunden mit den Berliner jüdischen Bankiersfamilien Goldschmidt und Oppner. Die gläubigen Juden der Provinz und die assimilierten, selbstbewussten und einflussreichen Juden der prosperierenden Reichshauptstadt verbindet das Ethos der Arbeit, des Fleißes und der Sparsamkeit. Welten trennen sie allerdings in ihrem äußeren Lebensstil. Gemeinsam ist ihnen ihr Status als Außenseiter, der schließlich in der Vernichtung durch die Nationalsozialisten endet.

Gabriele Tergit hatte den Roman bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weitgehend fertig, aber es fand sich niemand, der ihn drucken wollte. Als Nazi-Diktatur und Krieg vorüber waren, bot sie ihn Ernst Rowohlt an. Der lehnte ab. Ein so umfangreiches Werk könne er nicht herausbringen. „Effingers“ erschienen dann bei Hammerich & Lesser und waren trotz guter Kritiken ein kommerzieller Misserfolg. Axel Eggebrecht besprach den Roman am 21. Dezember im damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR). Um ihn zu hören, musste Gabriele Tergit, die ja in London lebte, ans andere Ende der Stadt fahren, zu einem Bekannten, der ein modernes Radiogerät besaß.

„Von Thomas Carlyle stammt die schöne Formel: ‚In Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeit.’ Nun, meine verehrten Zuhörer: Wir alle wissen, wie selten die Begegnung mit einem Buch wirklich zur Begegnung mit der Seele gewesener Zeiten wird. Umso beglückender, wenn einem dies Erlebnis noch einmal widerfährt. Ich hatte dieses Glück. Eben jetzt in den letzten Wochen. Wir haben da einen jener großen Familienromane vor uns vom Stil der „Buddenbrooks“ oder auch der „Forsythesaga“. Wir haben das Geschick zweier Familien zu verfolgen, durch mehrere Generationen hin. Der Schauplatz ist im wesentlichen Berlin. Und zwar handelt es sich um eine ganz bestimmte Schicht; um wohlhabendes Bürgertum, Unternehmer also und Kaufleute, Juristen und Bankiers, um Kunstkenner und nur gelegentlich wohl auch um einen Künstler, eine Künstlerin, die in dieser Welt durchaus als Außenseiter auftreten. Ja - und das alles bekommt seine besondere Bedeutung, seine besondere Farbe: die beiden weitverzweigten Familien, von denen erzählt wird, gehören dem Berliner Judentum an, das ja lebhaft Anteil hatte nicht nur an der materiellen, sondern vor allem an der kulturellen Entwicklung der Hauptstadt. Das umfangreiche Buch ist, um es mit drei deutlichen Worten nun gleich zu sagen, erstaunlich, mutig und bedeutend.“[11]

Von 1957 bis 1981 arbeitete Gabriele Tergit als Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland mit Sitz in London und veröffentlichte in dieser Funktion drei Bände mit Biographien und Autobiographien der Mitglieder des PEN im Ausland. Ansonsten widmete sie sich kulturgeschichtlichen Themen, veröffentlichte ein „Büchlein vom Bett“ und schrieb über das, was sie besonders liebte: Blumen und Gärten.[12]
Gabriele Tergit starb am 25. Juli 1982 in einem Londoner Krankenhaus. Gern hätte sie noch das Erscheinen ihrer Lebenserinnerungen erlebt. Es war ihr nicht vergönnt. Sie erschienen (1983) ein halbes Jahr nach ihrem Tode bei Ullstein unter dem Titel „Etwas Seltenes überhaupt“ - so hatte ihr Freund und Kollege Rudolf Olden sie charakterisiert, der 1940 im Atlantik starb, als der Passagierdampfer, der ihn und seine Frau nach Kanada bringen sollte, von einem deutschen U-Boot torpediert wurde.
Heute gibt es in der Nähe des Potsdamer Platzes eine „Gabriele Tergit-Promenade“. Sie läuft parallel zur U-Bahn-Linie, die vom Gleisdreieck kommt und vor dem Potsdamer Platz im Boden versinkt. Darüber hätte sie sich bestimmt gefreut. Noch erfreulicher wäre es, wenn sie endlich einmal für alle Zeiten wiederentdeckt und viele neue Leser finden würde.

Ausschnit Stammbaum Hirschmann
Ausschnitt aus dem Stammbaum der Familie Hirschmann
Vollständiger Stammbaum der Familie Hirschmann [PDF]

Anmerkungen:
[1] Gabriele Tergit: Frauen im Gerichtsgebäude, in: Gabriele Tergit: Blüten der Zwanziger Jahre. Gerichtsreportagen und Feuilletons 1923-1933, herausgegeben von Jens Brüning, Berlin, S.64f.
[2] Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen, Berlin 1983 (Ullstein), S.14
[3]Gabriele Tergit: Liebeserklärungen an diese Stadt, in: Tergit: Blüten der Zwanziger Jahre a.a.O.,
S.31
[4] Tergit: Etwas Seltenes überhaupt,a.a.O., S.77
[5] Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Frankfurt am Main 2016 (Schöffling & Co.);
S.147f.
[6] Heinrich Mann: Varité im Norden, in. Herbert Günther (Hrsg.): Hier schreibt Berlin. Eine Anthologie,
Berlin 1929, Neuausgabe Berlin 1989 (Fannei & Walz), S.19
[7] Zitiert nach Jens Brüning: Nachwort zu: Gabriele Tergit: Atem einer anderen Welt. Berliner
Reportagen, Hrsg. v. Jens Brüning, Frankfurt am Main 1994 Suhrkamp), S.206
[8] Tergit: Etwas Seltenes überhaupt,a.a.O,S.49
[9] Tergit: Atmosphäre des Bürgerkriegs, in: Tergit, Blüten der Zwanziger Jahre, a.a.O., S.107 f.
[10] Tergit: Etwas Seltenes überhaupt,a.a.O, S.174
[11] Tergit: Etwas Seltenes überhaupt,a.a.O, S.192 f.
[12] Gabriele Tergit: Der alte Garten/Der glückliche Gärtner (Neuausgaben bei Schöffling & Co.,2014)

Siehe auch:
Vortrag: Die Berliner Familie Hirschmann am 19. April 2017
Lesung mit Bildern von Sven Heinemann, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Presseinformation / Einladung [PDF]

Käsebier kehrt zurück an den Ku’damm
Das Moses Mendelssohn Zentrum übernimmt den persönlichen Nachlass von Gabriele Tergit [PDF]