Vor hundert Jahren
Die Einführung der Liniennummern bei der Straßenbahn in Berlin

Von Heinz Jung

Hundert Jahre ist es jetzt her, dass die Kennzeichnung der Straßenbahnen Berlins durch Nummern eingeführt wurde. Das Fahrplanheft der Großen Berliner Straßenbahn, das den vom 6. Mai 1902 an gültigen Fahrplan enthielt, war die erste Drucksache, die die nunmehr eingeführten Nummern und Buchstaben richtig vorstellte, die weit sichtbar an den Fahrzeugen - zunächst allerdings nur an den Triebwagen - angebracht waren. Dies ist der Anlass für den folgenden verkehrsgeschichtlichen Rückblick.

Heute, da wir gewohnt sind, nicht nur Verkehrslinien numerisch zu ordnen, muss uns die Vorstellung schwer fallen, wie die Fahrgäste im ausgehenden 19. Jahrhundert wohl zurechtgekommen sein mögen. Es war in wohl fast allen größeren Städten, so auch in Berlin, damals üblich, die öffentlichen Straßenverkehrsmittel mit farbigen Kennzeichen auszustatten, um die einzelnen Linien zu unterscheiden. In Berlin benutzte man farbige "Signallaternen" und farbige Zielschilder.

Heute wundert es uns, dass die Verwaltung der Großen Berliner Straßenbahn bzw. deren Vorläufer, die Verwaltung der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn, nicht schon viel früher auf den Gedanken der offiziellen Numerierung der Linien gekommen war, betrug doch die Anzahl der Linien dieser Gesellschaft allein im Jahre 1901 schon 80. Eine solche Anzahl von Linien aber gut durch Farben unterscheiden zu wollen, ist unmöglich. Die Wahl der Farbe für eine neu einzurichtende Linie war eine Art Denksportaufgabe, denn es musste ja vermieden werden, dass Linien mit der gleichen Farbe oder Farbkombination in der gleichen Straße verkehrten.

Natürlich waren die einzelnen Linien in den Fahrplanheften, in Aushangfahrplänen und in Reiseführern schon seit langem mit Nummern versehen, aber diese Nummern hatten keinen praktischen Wert, denn sie befanden sich nicht an den Fahrzeugen, wurden auch öfter geändert und waren in den verschiedenen Veröffentlichungen nicht übereinstimmend.

Ein Beispiel dafür, dass Autoren unserer Tage keine Kenntnis von dieser Sachlage haben, liefert Iselin Gundermann in ihrem sonst sehr lesenswerten Büchlein "Berlin als Kongressstadt 1878". Es heißt dort: "1878 gab es 13 verschiedene Pferdebahnstrecken, von denen nur die Linie zwischen Weidendammer Brücke und Wedding alle 20 Minuten verkehrte, alle übrigen Linien fuhren in Abständen von etwa 10, die Linien 1 (Kupfergraben - Westend) und 5 (die sogenannte Ringbahn) sogar alle 5 Minuten". Die Ringbahn war aber nicht die Linie 5 und die andere genannte Linie nicht die Linie 1. Frau Gundermann hat hier leider aus dem Baedeker abgeschrieben, der die Pferdebahnlinien nach eigenem Geschmack geordnet hatte. Die sogenannte Ringbahn war inoffiziell schon zu der Zeit die Linie 1; sie erhielt diese Nummer schließlich im Jahre 1902 offiziell. Die Linie Kupfergraben - Westend aber, die nicht der "Großen" gehörte, erhielt im Jahre 1902 die offizielle Bezeichnung N!

Im Laufe des Jahres 1901 drängte die Lage schließlich zu einer durchgreifenden Änderung in der Linienkennzeichnung. Eine Leserzuschrift aus der Vossischen Zeitung vom 4. September jenes Jahres soll die damalige Situation beleuchten: "Je größer die Zahl der Berliner Straßenbahnlinien wird, um so abwechslungsvoller werden auch die Farbenzusammenstellungen auf den Schildern der einzelnen Linien. Dass sie aber auch immer dem praktischen Bedürfniß entsprechen, auf größere Entfernung leicht erkennbar zu sein, kann nicht behauptet werden.

Oft verfließen die Farben völlig ineinander, meist ist die Schrift nicht zu lesen. Man beachte z.B. die Schilder der Linie Schöneberg - Görlitzer Bahnhof (gelb-roth mit weißer Schrift!). Eine gründliche Abhilfe thut hier noth. Am geeignetsten dürfte es sein, für alle Linien statt der bunten Schilder solche mit weißer Farbe mit schwarzer Schrift zu wählen, darüber eine große runde Scheibe mit den Farben der Linie anzubringen..." Ein hartes Urteil - aber von der Vorstellung, dass die Linienkennzeichen farbig sein müssten, konnte sich dieser Kritiker auch nicht lösen.

Inzwischen hatte sich auch schon die Leitung der Großen Berliner Straßenbahn mit dem Problem beschäftigt, und am 11. Oktober 1901 kündigt die Vossische Zeitung an, dass die Große Berliner Straßenbahn außer den bisher gebräuchlichen Streckenbezeichnungen durch Farbenscheiben und Streckentafeln noch Nummern auf dem Dache der Wagen anbringen wolle, die den Nummern des offiziellen Fahrplans entsprechen. Am 20. Oktober erschienen sämtliche Triebwagen der Linie Schöneberg - Alexanderplatz mit dem Linienkennzeichen 26. Diese aus weiß bemaltem Eisenblech bestehenden Nummern waren etwa 50 cm hoch und ohne Hintergrund vor der Kontaktstange aufgestellt. An je einer Signallaterne vorn und hinten befanden sich Nummern auf dunklem Glase in weißer Schrift, während die anderen Laternen wie bisher die "Signalfarben" zeigten, die auch auf dem Zielschild zu sehen waren. Anfang November wurde auch die Linie Schöneberg - Frankfurter Allee mit Liniennummern ausgerüstet. Diese Linie erhielt die Nummer 27. Die "27" war in schwarz auf weißem Untergrund angebracht; über die Technik wird leider nichts berichtet.

Die neue Kennzeichnung fand bei der Aufsichtsbehörde und offenbar auch bei der Mehrzahl der Fahrgäste Beifall, und so entschloss sich die Verwaltung der Großen Berliner Straßenbahn zur allgemeinen Einführung der Liniennummern an den Fahrzeugen. Wegen der in den bisherigen Fahrplänen vorhandenen Bezeichnungen mit Zusatzbuchstaben, wie 17a, 17b usw., "die für die Wiedergabe auf dem Dache und zum allgemeinen Gebrauche wenig geeignet sind", begannen nun aber bei der Verwaltung der Großen Berliner Straßenbahn Erörterungen über das System der Nummerngebung.

Am 28. Dezember 1901 meldet die Norddeutsche Allgemeine Zeitung: "Die Nummernschilder der Straßenbahn werden vor dem 1. April des nächsten Jahres nicht zur Einführung kommen. Die Direktion will sich zunächst noch über verschiedene Linienänderungen schlüssig werden, ehe sie mit den die Nummernschilder betreffenden Anträgen an das Polizeipräsidium herantritt". Doch scheint in jenen Tagen das neue Schema im allgemeinen festgestanden zu haben, da das Schöneberger Tageblatt vom 25.Dezember 1901 bereits melden konnte, dass die bisherigen Linien 26 und 27 in Zukunft die Nummern 72 und 68 bzw. 69 tragen würden.

Auch das Publikum beschäftigte sich mit dem Problem der Linienkennzeichnung. Eine Leserzuschrift an die Vossische Zeitung vom 13. Oktober 1901 lautet: "Die Absicht der Großen Berliner Straßenbahn, oberhalb eines jeden Wagens die Nummer der Linie in großen Zahlen anzubringen, ist gewiß sehr löblich. Der damit verfolgte Zweck kann aber nur dann vollständig erreicht werden, wenn diese Nummer, wie dies in Hamburg geschieht, auch an jeder Längswand des Wagens angebracht wird, damit man sich auch von der Seite her über die Linie vergewissern kann. Noch besser wäre es, wenn die Einrichtung für die verschiedenen Gesellschaften, deren Wagen Berlin berühren, mit fortlaufender Nummernfolge eingeführt würde, nöthigenfalls durch polizeiliche Anordnung, zumal die Wagen der Südlichen und Westlichen Vorortbahn, abgesehen von der Aufschrift, denen der 'Großen' gleichen, ..."

Die Tochtergesellschaften der Großen Berliner Straßenbahn, das waren zu der Zeit die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn, die Westliche Berliner Vorortbahn und die Südliche Berliner Vorortbahn, wurden selbstverständlich in die Planungen einbezogen. Die übrigen Straßenbahn-Unternehmen in Berlin und seinen Vororten behielten ihre eigenen Systeme bei, die allerdings in der Zukunft auch Änderungen unterworfen waren.

Über die Technik der Anbringung und über die Ausführung der Nummern lesen wir in der Vossischen Zeitung vom 24. Dezember 1901. Es heißt dort: "Für die künftigen Nummern der Linien an den Motorwagen der Straßenbahn ist folgende Anordnung gewählt worden: Die rechte Signallaterne an der Stirnseite der Wagen wird um ein mehrfaches vergrößert. Sie erhält in schwarzen Zahlen auf weißem Milchglas die Nummer der Linie. Scheibe und Nummer sind so groß, dass sie auch bei Tage bequem aus der Entfernung gelesen werden können. Bei Eintritt der Dunkelheit ist die Scheibe mit Hilfe der elektrischen Beleuchtung noch deutlicher erkennbar als am Tage. Die links an der Stirnseite der Wagen angebrachte Laterne mit den Signalfarben bleibt wie bisher.
Von der Anbringung ausgeschnittener Nummern oder von Tafeln mit aufgemalter Nummer auf dem Dache der Wagen wie bei den versuchsweise numerierten Linien 26 und 27 soll abgesehen werden, da diese Nummern in der Dunkelheit wenig Dienste leisten. Dagegen wird geplant, die Nummern der Linien an der Längsseite der Wagen anzubringen."
Anfang Januar 1902 wurde die Öffentlichkeit mit dem neuen Linienbezeichnungsschema bekannt gemacht.

Die führenden Reiseführer-Verfasser griffen das bekannt gemachte System sofort auf und veröffentlichten es in ihren etwa im April 1902 erschienenen Neuauflagen. Dort finden wir das geplante Numerierungssystem:
Ringbahn: 1,
Halbring: 2,
Linien nach Nordwesten: 8-18,
Linien nach Norden: 24-40, 46-54,
Linien nach Nordosten und Osten: 60-71,
Linien nach Westen nach Osten: 78-93,
Linien nach und im Süden: 101-104, 121-125,
Linien im Südwesten: 136-143,
Linien nach und im Westen: 161-168.

So Baedeker 1902. Mit kleinen Abweichungen und ohne die Himmelsrichtungen zu nennen auch in Band 25 von Griebens Reisenbüchern "Neuester Plan und Wegweiser von Berlin", 28. Auflage, 1902. Die Ordnung nach den Himmelrichtungen ist hier vorgestellt, da sie Jahrzehnte Bestand hatte; Reste dieser Ordnung waren noch nach dem Zweiten Weltkrieg feststellbar.
Leider waren die Reiseführer-Hersteller im Bestreben, aktuell zu sein, etwas zu schnell vorgegangen.
Das oben vorgestellte Programm wurde in den nächsten Wochen noch einmal umgeworfen, da die Unternehmen die dreistelligen Nummern als ungeeignet ansahen. So entschloss man sich, an deren Stelle Buchstaben und römische Zahlen zu verwenden. Das schließlich eingeführte System ordnete der Großen Berliner Straßenbahn die Nummern von 1 bis 99 - zunächst mit Lücken - zu, der Westlichen Berliner Vorortbahn die Buchstaben von A bis M (zunächst nur bis G besetzt), der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn die Buchstaben von N an und der Südlichen Berliner Vorortbahn römische Zahlen.

Etwa am 21. Januar 1902 erschien die Linie 40 (Schöneberg - Vinetaplatz) offenbar als erste mit den Linienkennzeichen in ihrer zunächst endgültigen Art - aufgemalte Nummer auf der in Fahrtrichtung rechten Dachlaterne; außerdem war die Nummer an den Seitenschildern des Wagens zu sehen. Die versuchsweise geführten Liniennummern 26 und 27 sind vor der allgemeinen Einführung der endgültigen Liniennummern entfernt worden, um die Fahrgäste nicht zu verwirren.

Die farbigen Zielschilder wurden alsbald durch weiße Schilder mit schwarzer Schrift ersetzt. Die Farben an der linken Signallaterne blieben jedoch bis etwa 1904 erhalten.
Neben Zustimmung durch die Fahrgäste gab es auch Kritik an der neuen Einrichtung. Ein Fahrgast äußert sich im Februar 1902 wie folgt: "Die Idee der Großen Berliner Straßenbahn, auf allen Linien gleichartige weiße Schilder mit schwarzen Buchstaben einzuführen, ist überaus unglücklich.

Das Publikum hat sich allgemein an das Unterscheidungsmerkmal nach Farben gewöhnt und spricht von der grünen, der blauen, der gelben, der rothweißen Linie, wie es auch bei den an die Haltestelle kommenden Wagen immer am ersten auf die Unterscheidungsfarben achtet. Es ist schon fraglich, ob man sich an die neu eingeführten Nummern so gewöhnen wird, dass sie für die Unterscheidung eine Rolle spielen; denn Nummern behalten sich nicht leicht, und für alle, die genöthigt sind, verschiedene Linien zu benutzen, ist das Behalten der Nummern kaum möglich; für die aber, die nur eine oder wenige Linien benutzen, ist die Unterscheidung nach Farben die sicherste.

Man fragt vergeblich bei der beabsichtigten Neuerung, zu welchem Zweck sie eingeführt wird. Denn die angeblich bessere Lesbarkeit des Endziels, das auf den Schildern angeführt wird, kann nicht maßgebend sein, weil die große Mehrzahl der Fahrgäste das Endziel besser an der weithin sichtbaren Farbe, als an der nur auf ganz kurze Entfernung lesbaren Inschrift erkennt."
Dazu können wir heute mit Bestimmtheit sagen, dass dieser kritische Fahrgast sich über den Nutzen und die Erlernbarkeit der Nummern doch wohl sehr getäuscht hat, denn kein Fahrgast war und ist ja genötigt, sich die Nummern der Linien einzuprägen, die er kaum benutzt. Und: Denken wir nur daran, dass im Jahre 1914 allein 33 Straßenbahnlinien die Potsdamer Straße zwischen dem Potsdamer Platz und der Lützowstraße durchfuhren! Wie hätte man diese nur alle eindeutig mit Farben kennzeichnen sollen? Schon Ende Mai 1902 beschwert sich ein anderer Fahrgast - und das mit Recht - über die Undeutlichkeit der neuesten, nämlich dreifarbigen Signallaternen der Linie 71. Die Zusammenstellung weiß-grün-blau war wohl tatsächlich nicht gut erkennbar. Dabei hätte die Große Berliner Straßenbahn dieser Farbkombination wirklich nicht mehr bedurft; erstaunlicherweise war diese nämlich erst am 6. Mai 1902 eingeführt worden.

Die Anbringung der neuen Kennzeichen an den Wagen zog sich noch bis zum Ende des Jahres 1902 hin; die Wagen der Westlichen Berliner Vorortbahn waren bis Ende Juni mit den neuen Kennzeichen versehen, die Wagen der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn erst Anfang Dezember 1902.

Bevor es soweit war, wurde jedoch schon Mitte August 1902 noch einmal eine entscheidende Änderung an der Ausführung der Nummern durchgeführt. Die bisher in schwarzer Farbe auf die Milchgläser der Laterne aufgemalt gewesenen Nummern hatten sich, sei es infolge der Hitze, die die Glühlampen in den Laternen entwickelten, sei es infolge der Erschütterung beim Fahren, als nicht haltbar erwiesen. Die Farbe bröckelte allmählich ab. Deshalb wurden die Nummern nunmehr aus Eisenblech ausgeschnitten und mittels eines schmalen Blechstreifens an der Laterne eingehängt. Diese Anordnung bot auch noch den Vorteil, dass die Nummern ausgewechselt werden konnten, ohne die Laternen abnehmen zu müssen.

Die Anhängewagen - zunächst vorwiegend ehemalige Pferdebahnwagen - blieben zunächst ohne weit sichtbare Linienkennzeichen. Erst im August 1912 wurden sie auch mit solchen ausgerüstet. Diese am Dachrand vorn und hinten angesteckten runden Schilder mit Stiel hatten infolge ihres Aussehens den Spitznamen "Bratpfanne". Sie blieben bis Ende der zwanziger Jahre in Gebrauch.
Die sogenannten Einsetzzüge bzw. -wagen verkehrten zunächst mit einer leeren Nummernscheibe. Das Fehlen einer Kennzeichnung dieser Wagen wurde, da sie ständig vermehrt wurden, als unangenehm empfunden.

Seit Ende März 1903 erhielten daher auch die Einsetzwagen ihre neuen Kennzeichen. Sie trugen seitdem die Nummer der Hauptlinie, zu deren Ergänzung sie dienten. Ihre Nummern waren halb so groß und nahmen nur die obere Hälfte des Feldes ein; unter der Nummer wurde zur Unterscheidung von der Hauptlinie der Buchstabe E angebracht. Diese Anordnung war teilweise auch dann noch im Gebrauch, als später - in den zwanziger Jahren - infolge Vermehrung der Nummernfelder an den Wagen für das E ein ganzes Feld zur Verfügung stand.

Nicht einbezogen in das im Jahre 1902 eingeführte Numerierungssystem waren die Straßenbahnunternehmen Berlins, die mit der Großen Berliner Straßenbahn weder betrieblich noch wirtschaftlich verbunden waren. Die Berliner Elektrische Straßenbahnen (BESTAG), die Berliner Städtische Straßenbahn und die Teltower Kreisbahnen benutzten nur farbige Linienkennzeichen. Die städtische Straßenbahn in Köpenick führte im Jahre 1906 von Berlin unabhängige Liniennummern ein.

In Spandau entschied man sich im Jahre 1908 für Buchstaben als Linienbezeichnungen. Die Buchstaben gaben Hinweise auf die Ziele der Linien. Linie B fuhr zum Spandauer Bock, Linie P nach Pichelsdorf, Linie K zur Armeekonservenfabrik in Haselhorst, Linie J zum Johannisstift usw. Die Linie J in Spandau war also wirklich eine Linie Jot, während die Linie J der Westlichen Berliner Vorortbahn - sie entstand erst 1913 - nach Ohrenzeugen vom Personal, vielleicht auch von den Fahrgästen als Linie I (i) bezeichnet worden sein soll. Eine wirkliche Linie I gab es ja nicht, da diese mit der Linie I (römisch 1) der Südlichen Berliner Vorortbahn hätte verwechselt werden können.
Als die Linie V (Vau) von Wilmersdorf nach Lichterfelde (Händelplatz) verlängert wurde, musste die Linienbezeichnung in W geändert werden, da sich in Steglitz und Lichterfelde sonst Verwechslungen mit der Linie V (römisch 5) der Südlichen Berliner Vorortbahn ergeben hätten. Die Verlängerung der Charlottenburger Linie P und R nach Spandau (1917) verursachte dort die Änderung des ganzen schönen Benennungssystems: Die Spandauer Linien-Buchstaben wurden durch Zahlen ersetzt.
Bei den Berliner Ostbahnen, ein Betrieb, der seinen Schwerpunkt in Schöneweide hatte, entschied man sich (erst 1913) ebenfalls für römische Zahlen als Linienbezeichnungen.

Kurz nach der Vereinigung der meisten der kleineren Betriebe mit der Großen Berliner Straßenbahn (1920-1921) verschwanden die römischen Zahlen und bald danach (1924) auch die Buchstaben. Der Gesamtbetrieb hieß seit 1920 Berliner Straßenbahn und seit 1923 Berliner Straßenbahn-Betriebs-G.m.b.H.

Bis zum Jahre 1912 war das Straßenbahnnetz der Großen Berliner Straßenbahn derartig gewachsen, dass auf die im Jahre 1902 noch glücklich vermiedene Wahl dreistelliger Zahlen als Linienbezeichnungen nicht mehr verzichtet werden konnte. So benannte Linien waren mehr oder weniger Zwillingslinien, das heißt, Linie 162 zum Beispiel hatte einen erheblichen Teil ihrer Strecke mit der Strecke der Linie 62 gemeinsam. Auch fahrplanmäßig waren solche Linienpaare miteinander verbunden. Anfangs war das Prinzip "Zwillingslinie" stark ausgeprägt, später - in den dreißiger Jahren - kam es zu den eigentlich absurden Zuständen, bei denen es z.B. eine Linie 148 und eine Linie 177 gab, jedoch keine Linie 48 und keine Linie 77. Im Jahre 1914 hatte der Straßenbahnverkehr Berlins seinen ersten Höhepunkt erreicht; unter den zweistelligen Nummern fehlte bei Kriegsbeginn nur die 86.

Alles, was über die Technik der Anbringung der neuen Kennzeichen gesagt werden konnte, bezog sich natürlich nur auf die im elektrischen Betrieb eingesetzten Fahrzeuge. Nun gab es aber im Jahre 1902 noch einige Linien mit Pferdebetrieb. Da deren Umstellung auf elektrischen Betrieb aber nur eine Frage von wenigen Monaten war, darf angenommen werden, dass die betreffenden Linien zwar ihre neuen Nummern in den Fahrplänen hatten, an den dem Pferdebetrieb dienenden Fahrzeugen werden sie wohl gar nicht erst angebracht worden sein. Jedenfalls zeigen die Fotografien der letzten Pferdebahnen keine Liniennummern.

Über das System der Zuordnung der Nummern wurde oben schon berichtet. Bald wurden bei der Großen Berliner Straßenbahn Ringlinien beliebt. Zur ursprünglich einzigen Ringlinie der Großen Berliner Straßenbahn (bis 1903 "Ringbahn"), der Linie 1, und der Linie I (römisch I) der Südlichen Berliner Vorortbahn traten alsbald weitere Ringlinien hinzu, und man musste feststellen, dass das 1902 gewählte Nummernschema auch seine schwachen Stellen hatte. Der guten Ordnung halber sollten alle Ringlinien die Nummern bis 10 bekommen, aber die Nummern 6, 7, 8, 9 und 10 waren schon anderweitig vergeben worden. Immerhin - allmählich stellte sich die gewünschte Ordnung beinahe ein. An Ringlinien waren vorhanden:

1914:
Linie 1 Stadtring (so seit 1903)
Linie 2 Außenring
Linie 3 Großer Ring
Linie 4 Ost-West-Ring
Linie 5 Gerichtsring
Linie 8 Grunewaldring
Linie 10 Ring Groß-Berlin
Linie I Südring
Linie H Westring

1929:
Linie 1 Stadtring
Linie 2 Bahnhofsring
Linie 3 Großer Ring
Linie 4 Ost-West-Ring
Linie 5 Außenring
Linie 6 Südring
Linie 7 Westring
Linie 8 Nordring
Linie 9 Ostring

Der Außenring des Jahres 1914 hatte mit dem Außenring des Jahres 1929 keine Gemeinsamkeiten; auch der Ost-West-Ring des Jahres 1914 war mit dem des Jahres 1929 - trotz gleicher Nummer - nicht identisch. Wohl aber entsprach die Linie H der späteren Linie 7 genau.
Im Jahre 1935 geschah bei der BVG etwas Merkwürdiges. Logisch denkende Mitarbeiter sagten: Wenn wir jetzt aus wirtschaftlichen oder betrieblichen Gründen eine Ringlinie zu einer Art Halbring machen, so muss entsprechend der Numerierungsregel auch die einstellige Zahl verschwinden!
Und so geschah es: Am 2. Mai 1935 wurde der Ostring als solcher aufgegeben. Der verbleibende Rest der Linie erhielt die Nummer 109! Aber schon vier Monate später wusste man von der Numerierungsregel offenbar nichts mehr: es wurde wieder ein Ostring gebildet, aber die neue Nummer 109 blieb! Ähnliches geschah am Anfang des Jahres 1939. Der Ost-West-Ring wurde aufgeschnitten. Nun hätte die Linie 4 ja in 104 umbenannt werden müssen, aber auch das unterblieb! Gute Regeln waren offenbar immer schon dazu da, missachtet zu werden.

Der Zweite Weltkrieg bescherte uns - oft als Ersatz für eingestellte Autobuslinien - neue Straßenbahnlinien mit Zweihunderter- und schließlich sogar mit Dreihunderter-Nummern. Im Jahre 1941 kamen die Nummern über 400 für die Nachtlinien hinzu. Von diesen Linien hat keine das Kriegsende überdauert. Die Linien mit Nummern über 100, von denen es nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin noch fünf gab, wurden am 1. Juni 1949 umbenannt.

An Umbenennungen von Straßenbahn-, aber auch von Autobuslinien ist die Berliner Verkehrsgeschichte aber auch sonst nicht arm. Immer wieder gab es Anlässe; die Zusammenfassung aller Straßenbahnlinien in einen Betrieb und die finanziellen Schwierigkeiten der Inflationszeit brachten eine Flut von Änderungen. Mit den Kenntnissen über den Berliner Verkehr des Jahres 1914 konnte man im Jahre 1924 ganz schön in die Irre geleitet werden. Wieviel "Zweitbesetzungen" eingegangener Liniennummern hat es damals gegeben! Und was sich nach 1945 im Berliner Straßenbahnverkehr getan hat, kann des Umfangs wegen hier kaum angedeutet werden.

Als der Berliner noch ohne die Liniennummern auskommen musste oder sich noch nicht an sie gewöhnt hatte, behalf man sich mitunter mit praktischen Kurzbezeichnungen. So hieß z.B. die mit roten Zielschildern versehene Linie vom Görlitzer Bahnhof zum Amtsgericht Charlottenburg der "rote Amtsrichter" und die Linie vom Schlesischen Bahnhof zum Amtsgericht Charlottenburg der "blaue Amtsrichter". Eine Linie mit rot-grüner Signalfarbe hieß die Papageienlinie. Ein grüngelbes Schild ergab die Bezeichnung "Spinat mit Ei". Der Südring, der zwischen Tempelhof und Britz noch viel unbebautes Gelände berührte, hieß Wüstenbahn. Gern sagte man einem Fremden, der vom Stettiner Bahnhof nach Charlottenburg wollte, da müsse er mit dem Kuh-Wagen fahren. Gemeint war die Linie Q!

Von 1924 bis 1944 empfahl man einem nicht angenehmen Zeitgenossen gern die Benutzung der Linie 68: "Mensch, fahr bloß mit der 68, da kannste nich verkehrt fahren!" Erklärung: Die Linie 68 hatte an beiden Enden (bzw. in deren Nähe) eine Irrenanstalt: Wittenau und Herzberge. Ob wohl bei der Leitung der Straßenbahn ein Spaßvogel diese Wegführung festgelegt hat?
Bald nach Einführung der offiziellen Liniennummern kam seitens der Herausgeber von Reiseführern und ähnlicher Schriften die Unsitte auf, die nicht in das Numerierungssystem einbezogenen Linien der kleineren Straßenbahnbetriebe Berlins und des Umlandes mit erfundenen Nummern aufzuführen. Solange es noch keine dreistelligen Nummern gab, wurde also nach Gutdünken bei Hundert weitergezählt. Selbst das sonst zuverlässige und brauchbare Werkchen "Kießlings Berliner Verkehr" nennt im Jahrgang 1906 z.B. Linien
101 Berlin - Hohenschönhausen
102 Schlesischer Bahnhof - Stralau - Treptow
107 Steglitz - Dahlem
und andere.

Dass das erfundene Nummern sind, ist schon daraus zu ersehen, dass alle Linien der Spandauer Straßenbahn summarisch unter der 111 aufgeführt werden. Der Verfasser der "Chronik von Dahlem", Herr Carl Philipp Melms, hat den Unsinn übernommen und geschrieben: "13. Mai 1906 - Die Straßenbahnwagen (Steglitz - Grunewald) tragen die Bezeichnung Linie 107".
Glatter Unfug! Zwei Mitarbeiter des Arbeitskreises Berliner Nahverkehr versuchten seinerzeit, im persönlichen Gespräch Herrn Melms von der Fehlerhaftigkeit dieser Aussage zu überzeugen, aber vergeblich; in der 2. Auflage dieser Chronik (von 1978) war der Fehler wieder enthalten.

Obwohl der Einführung der offiziellen Liniennummern bei den Berliner Omnibussen erst in zwei Jahren gedacht werden müsste, sei dieses Ereignis doch schon hier erwähnt. Man entschloss sich zu dieser Neuerung bei der Allgemeinen Berliner Omnibus-Actien-Gesellschaft (ABOAG), nachdem dieses Unternehmen im Jahre 1903 die Vereinigung mit der wirtschaftlich etwas schwächeren Neuen Berliner Omnibus-Aktien-Gesellschaft vollzogen hatte.

Alle Linien hatten zu dieser Zeit noch Pferdebetrieb. Dieser Tatsache ist es wohl zuzuschreiben, wenn bei der Datierung alter Fotografien häufig arg daneben gegriffen wird. So kann man in Ausstellungen oder selbst in Büchern Abbildungen finden mit dem Vermerk "Jahrhundertwende" oder "Neunziger Jahre", obwohl eine deutliche Liniennummer anzeigt, dass die Aufnahme frühestens im Jahre 1904 gemacht worden sein kann. Es sei daher an dieser Stelle eindringlich darauf hingewiesen, dass die Liniennummern oft gute Hilfsmittel zur zeitlichen Einordnung von alten Fotografien sind, zumal wenn es sich auf dem Bilde um "Eintagsfliegen" handelt.

Aus: "Mitteilungen" 2/2002