Bericht über eine Reise nach Berlin vor 120 Jahren
Von Gustav und Albert Kemmann (1882), herausgegeben mit einleitenden Vorbemerkungen von Peter C. Lenke

Vorbemerkungen
Unter den zahlreichen Dokumenten, die ich zur Familiengeschichte archiviert habe, finden sich auch zwei handschriftliche Manuskripte mit einem Bericht über eine Reise nach Berlin im Jahre 1882. In diesem überlieferten Bericht werden viele der Sehenswürdigkeiten beschrieben, die das damalige Berlin bot. Da diese Schilderung ein lebendiges Bild von dem aufstrebenden Berlin der Gründerzeit zeichnet, so wie es ein kunst- und kulturinteressierter "Tourist" seinerzeit erlebte, soll sie den Lesern der "Mitteilungen" nicht vorenthalten werden.

Die beiden Manuskripte - eine "Kladde" von Gustav Kemmann, über dessen späteres Wirken als Verkehrspionier in seiner Wahlheimat Berlin bereits berichtet wurde (vgl. Mitteilungen 98, 2002, S. 338-346), und eine "Reinschrift" seines Bruders Albert Kemmann - stimmen im wesentlichen wörtlich überein, weisen aber in einzelnen Punkten auch Abweichungen auf. So enthält die Kladde des kunstinteressierten Gustav Kemmann zum Beispiel mehr Einzelheiten über die Gemälde in der Nationalgalerie und andere Kunstwerke, während die Reinschrift des Bruders Albert Kemmann an anderer Stelle zusätzliche Informationen liefert.

Als authentisches Zeugnis wird der Bericht wörtlich und größtenteils in der damaligen Schreibweise wiedergegeben. Im Interesse besserer Lesbarkeit ist er allerdings geringfügig redigiert worden, wobei aus den voneinander abweichenden Stellen beider Manuskripte alle darin enthaltenen Informationen übernommen worden sind. Um den Reisebericht noch anschaulicher zu gestalten, sind dem Text zeitgenössische Holzstiche beigegeben worden, die einige der erwähnten Sehenswürdigkeiten in ihrem damaligen Zustand zeigen.

Schließlich sei dem Bericht zum besseren Verständnis noch folgendes vorausgeschickt: Im Januar 1882 hatte Gustav Kemmann gerade seine erste Staatsprüfung an der Bauakademie[1] abgelegt. Da unternahm der Vierundzwanzigjährige zusammen mit seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Albert Kemmann und dem Vater sowie zwei Onkeln von der im Bergischen Land gelegenen Mettmanner Heimat aus eine einwöchige Reise nach Berlin. Zwar hatte Gustav Kemmann bereits während seines Studiums in Berlin Fuß gefasst, dort auch seine spätere Frau kennengelernt und verkehrte bereits im Hause seines künftigen Schwiegervaters, des Möbelfabrikanten August Bornemann, doch wurde er erst im Jahr 1890 für immer in Berlin ansässig.

Über diese Reise vom 30. Januar bis zum 6. Februar 1882 haben die beiden Brüder Gustav und Albert Kemmann mit der frischen Erinnerung des in Berlin Gesehenen noch vor der Abreise den nachfolgenden Bericht niedergeschrieben.

Montag, den 30. Januar
Um 9 1/4 Uhr Abends ist Ankunft in Berlin; danach wird ein Abend-Imbiss im Rathskeller eingenommen.

Dienstag, den 31. Januar
Unter Begleitung des Herrn Bornemann erfolgt gegen 9 Uhr der Aufbruch und zwar zunächst zum Reichs-Telegraphen-Amt, um die glückliche Ankunft nach der Heimath zu melden. Von dort aus führt uns der Weg an der Hedwigskirche vorbei und nach Besichtigung einiger Punkte "Unter den Linden" (als da sind: Kaiserliches Palais, Kronprinzliches Palais, Oper, Ruhmes-Halle[2], Commandantur, Universität, Hauptwache, Lange Brücke, Standbilder von Blücher, Gneisenau, York von Wartenburg, Bülow von Dennewitz, Scharnhorst, ferner das Königliche Schloss, Dom, Museum etc.) weiter zur National-Gallerie.

In dieser sind unter anderem folgende Gemälde zu bemerken: "Verbrennung von Huß" von Lessing, "Jeremias auf den Trümmern Jerusalems" von Bendemann, zwei Bilder von Adolf Menzel und zwar das "Flötenkonzert Friedrichs des Großen" und "Friedrich der Große bei Tafel" sowie "Rückzug aus Russland". Ferner sehen wir: "Taufe des Nachgeborenen", "Rekrutenwerbung in Rumänien", "Einmarsch Blüchers in Frankreich", "Sedan", "Königgrätz", "Albrecht Achill im Städtekampf" sowie sechs biblische Landschaften von Schirmer. Als Marmorbildwerke sind zu erwähnen: "Judith, im Begriff das Schwert zu ziehen", "Der gefesselte Prometheus", "Hagar und Ismael".

In der ersten Etage bemerkt man die Bildnisse von Kaiser und Kaiserin, ferner "Eisenwalzwerk" von Adolf Menzel, "Überschwemmung in Ostpreußen", zwei Kreidezeichnungen von Kaulbach, dann die Gemälde "Jairus Tochter", "Zug des Todes", "Bibelübersetzung auf der Wartburg", Bildnisse von Bismarck, Moltke, Helmholtz, Mommsen, Alexander von Humboldt, Lessing, Jenny Lind[3] etc. Bemerkenswert sind dann noch die Bilder "Die Jagd nach dem Glück", "Christus predigt am See" und "Venus und Tannhäuser", welches gerade copiert wird. Endlich ist noch zu erwähnen das Colossalbild von Hans Makart: "Venedig huldigt der Katharina Carnero".

Nach Besichtigung der National-Galerie wird die Börse mit ihrem unbeschreiblichen Gewimmel und Gesumme besichtigt. Nachdem hierauf im Schlossrestaurant an der Schlossfreiheit bei Fritz Rösch zu Mittag gespeist worden ist, gehen wir "die Linden" entlang durch das Brandenburger Thor, auf welchem der Siegeswagen sieht, zur Siegessäule. Über 247 Stufen gelangt man dort hinauf und genießt von der Höhe ein prächtiges Panorama, doch muss sich Onkel Albert - da er nicht hinauszusehen wagt - den Fernblick auf Stadtbahn, Lehrter Bahnhof, Generalstabsgebäude etc. versagen. Von hier aus wird dann der Lehrter Bahnhof, in dessen Nähe das Kroll'sche Etablissement liegt, besichtigt, dann in dem Kurfürsten-Keller eine (genauer drei) Weiße getrunken und nach Besichtigung des Conzerthauses "Bilse"[4] in demselben Local bei 1/4 Ltr. Münchener Bier zu Abend gegessen.

Mittwoch, den 1. Februar
Es wird beschlossen, das Museum zu besuchen und dann auch der Weg dahin eingeschlagen. Derselbe führt zunächst an der Marienkirche vorbei. Ein kleines Kreuz vor der kleinen Thurmwand bezeichnet hier die Stelle, wo vor Zeiten ein Probst erschlagen wurde, der seine Gläubigen von der Kanzel herab zur Tilgung ihrer Schulden ermahnt hatte; eine ewige Lampe bezeichnete lange die der Gemeinde auferlegte Strafe. - Von hier führt der Weg weiter über den Spittelmarkt, wo vormals der Galgen stand, durch die Heiliggeiststraße, in der an einer Fassade ein Neidkopf[5] zu bewundern ist, zum Museum.

Das Alte Museum, von Schinkel erbaut, scheint dem Besucher schon von ferne zuzurufen: "Hier tritt ein! Hier sind Götter!" Die Rotunde im alten Museum zeigt einen Theil der Ausgrabungen von Pergamon neben restaurirten Götterbildern. Den größten Theil des pergamenischen Fundes enthält ein Nebensaal, der gleichzeitig assyrische Sculpturen zeigt, die mit Keilschrift überzogen sind. Nur angedeutet sei der "Antikensaal" mit einer Sammlung griechischer Marmorbildwerke und daran anschließend römische und altchristliche Originalbildwerke. Die Gemäldegalerie, über dem Antikensaal liegend, enthält bedeutende Bilder von italienischen, niederländischen und deutschen Malern, so z.B. von Raffael vier Madonneu, von Rubens die "Auferweckung des Lazarus", "Verspottung Christi", "Jagd der Diana", von van Dyck, von Rembrandt "Simson und sein Schwiegervater" usw. Alle Bilder zeichnen sich durch Farbenstische aus. Im oberen Theil der Rotunde erblickt man die nach Cartons von Raffael gewebten Wandteppiche.

Weiter gelangt man aus der Gemäldegalerie in das Neue Museum. Dasselbe enthält zunächst eine Sammlung von Gypsabgüssen griechischer und mittelalterlicher Bildhauerwerke aus anderen Museen. Das große Vestibule, ausgeschmückt mit den sechs großen Kaulbach'schen Wandgemälden "Thurmbau zu Babel", "Homer und die Griechen", "Zerstörung Jerusalems", "Die Hunnenschlacht", "Die Kreuzzüge" und "Die Reformation" sowie den beiden Dioscuren führt abwärts zur antiquarischen Sammlung (Hildesheimer Silberfund) im Erdgeschoss.

Die ägyptische Sammlung hierselbst enthält eine große Zahl von Sarcophagen, Mumien, Grabkammern, Geräthen für Haus und Gewerbe, Papyrus usw. Besonders erwähnenswert sind noch die Nachbildung eines ägyptischen Tempels und im oberen Stockwerk des neuen Museums das ethnografische Museum.
Nach dem Mittagstisch wird das Aquarium besichtigt. Die Ankunft daselbst erfolgt gerade zur Zeit der Schlangenfütterung. Zu bemerken sind hier die Krokodile, Affen, fliegenden Hunde, Webervögel und eine unendliche Anzahl von Seegethier aller Art, darunter Seesterne und Seerosen, die mehr Pflanzen als Thieren ähnlich sind. Von hier gelangen wir im Trab zum Walhalla-Theater. Nach Schluss desselben wird in den Friedrichshöher Bierhallen am Hausvogteiplatz (Erinnerung an Fritz Reuter's Gefangenschaft) zu Abend gegessen.

Donnerstag, den 2. Februar
Nach einem Spaziergang durch die Wilhelmstraße, wo die Ministerien, Palais Borsig, Marterkasten, Wilhelmplatz mit den Denkmälern der Generale Friedrichs des Großen, Hotel Kaiserhof etc. liegen, wird - da es des Hofballes wegen nicht gestattet ist, das Schloss zu besichtigen - das Hohenzollern-Museum im Schloss Monbijou besichtigt. Es sei hier neben zahlreichen Reminiscenzen aus der Hohenzollernzeit die Drehbank Peters des Großen erwähnt. Von hier aus wird dann nochmals ein Abstecher zur Börse gemacht und dann im Börsen-Restaurant zu Mittag gegessen.

Danach übernimmt der neugebackene Bauführer Oberschulte[6] die Führung in Castan's Panoptikum in der Kaiser-Passage. Bei dessen Besichtigung stellt sich heraus, dass lebende Wesen und Wachsfiguren unwillkürlich verwechselt werden. Der Berliner Congress[7] hat hier eine vorzügliche Darstellung gefunden; ferner sind noch zu erwähnen: sterbender Turko, Cameliendame, Todtenmasken, Napoleons Krönungswagen, die Hohenzollern von Friedrich 1. bis jetzt usw. Alsdann wird nach Beschaffung von Billets zum Abeordnetenhaus und Stärkung in den Reichshallen mit einem Glas Bier die Oper "Carmen" (mit der Primadonna Tagliana als Carmen) im Königlichen Opernhaus gesehen. Zum Schluss wird in den Academischen Bierhallen ein Abendimbiss eingenommen.

Freitag, den 3. Februar
Zunächst wird der Morgen dieses Tages mit dem Besuch des Abgeordnetenhauses ausgefüllt. Es werden Reden von Büchtemann, Minister Maybach, Dr. Hammacher, Meyer-Arnswalde etc. angehört. Nach dem Mittagessen werden alsdann Theile der Stadtbahn besichtigt (Bahnhof Friedrichstraße) sowie zwei unter den Stadtbahnbögen liegende Restaurants "Franziskaner" und "Kyffhäuser". Da der Gottesdienst in der Synagoge schon beendet und zum Circus Renz es zu spät ist, wird nach kleinen Einkäufen des Onkel Albert das Reichshallen-Theater besucht. Die "Sehkrankheit" beginnt von Papa zu Onkel August um zuschlagen und erreicht einen Höhepunkt. Onkel Albert entgeht ihr durch seine Abreise am Sonnabend.

Sonnabend, den 4. Februar
In "sehkrankem" Zustand von Onkel August werden Billets zum Wallner-Theater gekauft und danach das Königliche Schloss besichtigt. Hier sind besonders zu bemerken: der "Saal der empfangenden Schlossgarde", die beiden "Rothen Säle", der "Ritter-Saal", der "Schwarze-Adler-Saal", die Gemälde-Galerien, der "Weiße Saal" und die Schlosskapelle. Das Schloss zeigt u.a. den Kronleuchter, unter dem Luther in Worms stand. Auf dem Schlosshofe sieht man das Standbild "Der Kampf des Ritters Georg mit dem Drachen". Nachdem alsdann in großartigem Umfang Einkäufe gemacht werden, folgt nach dem Mittagessen eine Ruhepause in der Wohnung. Zum Abschluss des Tages wird im Wallner-Theater der "jour fixe" angehört und anschließend auf der Wohnung ein Abendimbiss eingenommen.

Sonntag, den 5. Februar
Allgemeine Ermüdung und "Sehkrankheit" verursachen, dass die Wirthin um 3/4 9 Uhr wecken muss. Durch etwas Eile wird auch noch glücklich erreicht, dass wir genau um 10 Uhr im Dom eintreffen und somit Gelegenheit geboten ist, den Domchor zu hören. Der günstige Stehplatz vis-à-vis der Königsloge gibt Gelegenheit, das Erscheinen von Kaiser und Kaiserin, Prinz Karl, Prinz Alexander und anderer hoher Persönlichkeiten zu beobachten. Die Predigt wird über das Evangelium des Johannis, Kapitel 11, Verse 34 und folgende gehalten. Nach dem Gottesdienst wird noch das Einsteigen der hohen Herrschaften beaugenscheinigt.

Ein Spaziergang "Unter den Linden" entlang führt zur Berliner Pferdebahn, die in 3/4-stündiger Fahrt unter der Stadtbahn her an der neuen Technischen Hochschule vorbei zum Bahnhof Charlottenburg führt. Dort wird zu Mittag gegessen und dann das Mausoleum im Schlosspark besichtigt, in welchem sich die Grabstätten von Friedrich Wilhelm III.und der Königin Luise mit den beiden Marmorsarkophagen dieser Majestäten (von Rauch) befinden. Ferner wird die Flora[8] angesehen und dann per Pferdebahn am Justizgebäude vorbei zum Oranienburger Thor gefahren, wo Borsig's Locomotivbau-Etablissement liegt. Nachdem von hier aus ein Abstecher zum Dorotheenstädtischen Friedhof mit den Grabstätten von Rauch, Stüler, Schinkel usw. gemacht worden ist, kehren wir per pedes nach Hause zurück, jedoch nicht ohne vorher noch im St. Gotthardt, einem Weißbierkeller, und endlich in einer dritten Kneipe eingekehrt zu sein.
Hernach findet dann eine allgemeine Verpackung zur Abreise aus Berlin statt und die Abfassung dieses Berichtes.

Montag, den 6. Februar
Morgens um 8 Uhr ist dann die Abreise vom Potsdamer Bahnhof aus.


Anmerkungen
1. Die Bauakademie, die sich im Schinkelbau am damaligen Schinkelplatz befand, ist der Vorläufer der Königlich Technischen Hochschule in Charlottenburg.
2. Die Ruhmes-Halle ist das heutige Zeughaus.
3. Jenny Lind (1820-1887) war eine Sopranistin, die in Europa und Amerika als "schwedische Nachtigall" gefeiert wurde.
4. Die Kapelle des Königlichen Musikdirektors Benjamin Bilse war der Vorläufer der Berliner Philharmoniker und hatte ein eigenes Konzerthaus, das allerdings noch nicht die alte Philharmonie in der Bernburger Straße war. Diese wurde erst später auf dem Gelände des früheren "Central-Skating-Rink" erbaut und 1888 eingeweiht.
5. Ein "Neidkopf" ist ein fratzenhafter Kopf von Tieren, Menschen oder Ungeheuern aus Stein oder Holz an Türen, Mauern, Giebeln. Er soll nach altem Volksglauben Unheil abwenden.
6. Oberschulte war ein Corpsbruder von Gustav Kemmann. Der akademische Grad "Bauführer" entspricht unserem heutigen Diplomingenieur im Bauwesen.
7. Der Berliner Kongress (1878) war die Zusammenkunft der führenden Staatsmänner der europäischen Großmächte in Berlin unter Vorsitz von Bismarck als"ehrlicher Makler" zur Festsetzung der Bedingungen für den Russisch-Türkischen Friedensschluss.
8. Die "Flora" war ein Charlottenburger Festsaal mit Gartenlokal auf dem Gelände des heutigen Schillertheaters. Hier gaben auch die aus der Bilse'schen Kapelle hervorgegangenen Berliner Philharmoniker Konzerte, bevor die alte Philharmonie erbaut war.

Aus: "Mitteilungen" 3/2003