Auf Berlin lasse ich nichts kommen - Georg Hermann zum 140.Geburtstag

Von Gerold Ducke

Berlin um 1900 - die Millionenstadt ist der Parvenü unter den europäischen Metropolen, immerzu sich verändernd und nach allen Himmelsrichtungen ausbreitend. In dieser rast -und ruhelosen Stadt spinnt Georg Hermann sich in seine Geschichten ein wie der Seidenwurm in seine Fäden. Die Erinnerung an Menschen und Dinge zu bewahren ist das Leitmotiv seines literarischen Schaffens.

"Es ist Sage geworden, das Leben all derer, von denen ich sprechen werde. Mehr noch -es hat sich in nichts aufgelöst, sie sind, wie der Psalmist sagt, dahingegangen, als ob sie nie gewesen wären. Und deshalb laßt mich von ihnen sprechen! Denn es ist eine Ungerechtigkeit, eine schreiende Ungerechtigkeit, daß etwas, das einmal gewesen ist, so glatt wieder in das Nichts zurücktauchen soll, daß nach uns... nach unserer Anwesenheit an dieser zweifelhaften Stelle, kaum fünfzig, sechzig Jahre nach unserem Abgang von der Lebensbühne keine Seele mehr fragen soll, kein Huhn gackern, kein Hahn krähen. Leben wir dazu? Weinen wir und freuen wir uns dazu? Soll niemand wissen, was wir getragen haben?"[1]

Er wurde am 7. Oktober 1871 in Berlin als jüngstes Kind des jüdischen Kaufmanns Hermann Borchardt geboren. Kindheit und  Jugend im alten Westen Berlins, im Viertel zwischen Landwehrkanal und Tiergarten, waren überschattet vom finanziellen Zusammenbruch seines Elternhauses.

"Wir sind plötzlich arm, ohne die Vorzügeder Armut genießen zu können. [...]Schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren stehe ich einem hoffnungslos erkrankten, seelisch und körperlich gebrochenen, früh gealterten Vatergegenüber.,,[2]

Um den Namen seines Vaters wieder in Ehren zu bringen, wählte er dessen Vornamen Hermann als dichterisches Pseudonym und drückte dadurch gleichzeitig seine Solidarität mit den Erfolglosen und Schwachen aus. Ihnen wollte er als "neuer Charon" vor der Überfahrt ins Totenreich noch einmal Stimme und Gestalt geben.

Georg Borchardt alias Hermann wird nach dem Besuch des Gymnasiums zunächst Kaufmann, wie sein Vater, sammelt aber lieber Pflanzen und Schmetterlinge. Angeregt von Turgenjew, Dickens und Andersen unternimmt er seine ersten schriftstellerischen Versuche. Während der Militärzeit findet er die 11uße, seinen ersten Roman Spielkinder zu vollenden,  der allerdings nur geringen  Erfolg hat. Er studiert mit Begeisterung Kunstgeschichte an der Berliner Universität und wird später von sich sagen, er wäre lieber Maler als SchriftsteIler geworden. Er ist 35 Jahre alt, als ihm mit dem zweibändigen Romanwerkjettchen Geberts Geschichte der große, anhaltende literarische Erfolg gelingt: 1906 erscheintjettchen Gebert und 1908 die Fortsetzung, Henriette jacoby. Es ist die tragische Geschichte einer jungen Berliner Jüdin zur Zeit des so genanten Biedermeier, der Jahre zwischen dem Sturz Napoleons 1815 und der bürgerlichen Revolution 1848. Hermann will diese Welt seiner Großeltern "verlebendigen bis auf den letzten Hosenknopf'.[3] Er durchforscht Museen und Bibliotheken, sammelt auch selber Kunstgegenstände und Antiquitäten und entdeckt, dass die Dinge, mit denen sich die Menschen damals umgaben, noch eine Seele hatten. Damit kritisiert er indirekt die laute Oberflächlichkeit und den toten Prunk seiner Gegenwart, der wilhelminischen Epoche.

Hermanns Roman wurde "Die jüdischen Buddenbrooks" genannt, denn fünfJahre zuvor war Thomas Manns Saga vom "Verfall einer Familie" erschienen. Wie die Buddenbrooks sind auch die Geberts reiche und angesehene Kaufleute, die neben dem Geldverdienen Wert auf Bildung und Kultur legen. Diese preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens sind trotz aller Assimilation stolz auf ihre Herkunft. Nicht juden werden zwar als Geschäftspartner, nicht jedoch als Schwiegersöhne akzeptiert. Jettchen Gebert, die sich in einen Goi verliebt, aber nicht mit ihrer Familie brechen will, verzichtet auf ihren Geliebten, ehelicht ihren unsympathischen Vetter Julius Jacoby und geht an ihrer unerfüllten Liebe zugrunde. Jacoby ist ein Ostjude aus Posen, den es nach Berlin zieht "wie die Fliege nach dem Siruptopf".[4] Hermann, der assimilierte West jude, wirft einen bösen Blick auf die Juden aus dem Osten. Kulturlose, nur an Geschäften interessierte Einwanderer wie Julius Jacoby würden in nicht allzu ferner Zukunft alteingesessene und kultivierte Familien wie die Geberts verdrängen.

Trotz des großen Erfolgs schrieb Georg Hermann zunächst keinen weiteren Biedermeier-Roman, sondern kehrte mit Kubinke (1910) in die Berliner Gegenwart zurück.[5] Schauplatz des Romans ist der neue Westen, Charlottenburg. Vor unseren Augen verwandelt Hermann eine idyllische Landschaft in ein gründerzeitliches Wohnviertel.

"Wo noch vor kurzem bunte Knabenkräuter im Maiwind ihre Blüten gewiegt hatten, da trieb  jetzt nur noch die Bauspekulation und der Häuserschwindel seine Blüten. Pferde wurden geschunden, Arbeiter um ihren Lohn gebracht; Handwerker betrogen. Die Häuser gingen von Hand zu Hand, wechselten dreimal den Besitzer, ehe sie fertig wurden. Wo heute ein Käsegeschäft war, war morgen ein Schuhgeschäft; und übermorgen standen elektrische Lampen im Fenster. [...] Jetzt natürlich, zu der Zeit, da unsere Geschichte beginnt, am ersten April 1908, da war unsere Straße eben hochherrschaftlich geworden.

Man fühlte ordentlich, wie die Mieten stiegen. Ja, es war ein hochherrschaftliches Haus mit roten Läufern auf der Treppe und mit goldenen Tapeten an den Wänden und mit farbigen Flurfenstern, grün und rosa, wie Pistazien-und Himbeereis. Und zum Überfluß kullerte noch hinter Drahtgittern ein Fahrstuhl und brachte jeden dorthin, wohin er gerade wollte, wenn er nicht eben seine Mucken hatte und steckenblieb.
Es hätte gar nicht draußen am Torweg zu stehen brauchen ,Nur für Herrschaften', man hätte es auch so gemerkt. Die Dienstmädchen, die Hausdiener und die Handwerker, die mußten natürlich durch den Nebeneingang gehen. Ja -wie gesagt -es war eben ein hochherrschaftliches Haus!"[6]

Selbstverständlich muss auch der Friseurgehilfe Emil Kubinke den Dienstboteneingang nehmen. Er ist ein stiller und unauffälliger Mensch, der von sich sagt, er sei nicht stark genug, nicht roh genug für dieses Berlin. Und nun erzählt Hermann, wie dieser sanfte und liebeshungrige Kubinke zwischen drei Dienstmädchen sich nicht entscheiden kann, wie er sich endlich mit der rotblonden Pauline mit den Rehaugen verlobt und am Horizont ein bescheidenes Glück erscheint, er dann aber von den beiden anderen Mädchen aufAlimente verklagt wird und in seiner Hilflosigkeit und Scham Selbstmord begeht. Denn es gibt kein Happy-End in seinen Romanen, niemand entgeht seinem Schicksal. "Es kam, wie es kommen musste", lautet sein Leitmotiv.

Wer auf raffinierte Plots mit überraschenden Wendungen aus ist, wird an Georg Hermanns epischer Ruhe und Gelassenheit vermutlich wenig Freude haben. Wie bei seinem großen Vorbild Fontane tritt auch bei ihm die Bedeutung der Handlung zurück. Im Vordergrund seiner Berlin-Romane steht die Großstadt-Atmosphäre, diese flirrende, schillernde Metropole mit ihren Farben, Lichtern, Geräuschen und Gerüchen und ihren Bewohnern, die scharf beobachtet und präzise gezeichnet sind, liebevoll zwar, doch nicht ohne Ironie.

Wie Alwin Herzfeld im Roman Die Nacht des Doktor Herzfeld (1912):[7 Der Schriftsteller und Kunstsammler ist sein Alter Ego, ein Augenmensch wie Hermann, der die Malerei des Impressionismus, namentlich die Künstler der Berliner Sezession bewunderte und mit Max Liebermann befreundet war. Die Nacht des Doktor Herzfeld ist der Roman eines leidenschaftlichen, melancholischen Flaneurs, ein impressionistisches Großstadtgemälde und ein Hymnus auf die Schönheit des nächtlichen Berlin.

Etwa zehn Jahre später (1921) erscheint eine Fortsetzung: Schnee heißt der zweite Herzfeld-Roman, der 1916 zur Zeit des Weltkriegs spielt.[8] Georg Hermann war einer der wenigen, die sich 1914 von der allgemeinen Kriegsbegeisterung nicht hinreißen ließen. Auch Doktor Herzfeld hasst diesen Krieg. Seine Wohnung mit den Kunstschätzen und den vielen Büchern ist ihm zur Festung geworden gegen den Wahnsinn da draußen in der Welt. Der Krieg hat sein geliebtes Berlin verändert, ihm die Stadt und ihre Menschen entfremdet. Er sehnt sich nach dem Gebirge, sehnt sich nach Schnee und verlässt Berlin in Richtung Alpen. In einer weiten, einsamen Schneelandschaft sucht und findet er den Tod.

Auch Georg Herman war zu Beginn des Ersten Weltkriegs "berlinmüde" geworden, er zog mit seiner Familie nach Neckargemünd, in die Nähe von Heidelberg. Es gefiel ihm im Süden, aber glücklich wurde er dort nicht. Seine Ehe zerbrach, er heiratete noch einmal, eine Frau, 25 Jahre jünger als er, die bereits 1926 im Alter von 30 Jahren starb. 1931 kehrte er nach Berlin zurück und wohnte bis 1933 in der Künstlerkolonie Friedenau (Kreuznacher Straße 28).

"Ich habeBerlin wahnsinnig gern.So gern,das sich in sechzig Jahren,woimmer ich war,nicht davon losgekommen bin. Ich finde, die Berliner sind die nettesten Menschen der Welt ... zum mindesten aber in Deutschland. Und sie reden so, daß man jedes Wort versteht, das sie sagen. Nicht nur versteht, was sie sagen, sondern :. was für mich wichtiger ist -auch versteht, was sie dabei denken...

Nein, auf Berlin lasse ich nichts kommen.Ich liebe es mit jener Haßliebe, die das übliche unter nahen Verwandten und lebenslänglichen Bekannten ist.„ [9] Viel Zeit blieb ihm nicht mehr für seine Liebe zu Berlin. Hermann war den Nazis als bekannter und populärer jüdischer Schriftsteller und als einer, der von sich sagte, er stehe auf dem linken Flügel der Menschheit, natürlich ein Dorn im Auge. Nach dem Reichstagsbrand floh er Mitte März 1933 zusammen mit seiner geschiedenen Frau und zwei Töchtern aus zweiter Ehe nach Holland. Seine Bücher wurden am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz verbrannt. Holland, früher das Land seiner Sehnsucht, wurde nun sein Exilland.

Dort war er kein Unbekannter. Seine Romane waren in Übersetzungen erschienen und sehr populär, außerdem hatte er in holländischen Zeitungen regelmäßig über literarische Neuerscheinungen aus Deutschland berichtet. 1935 erscheint in Amsterdam im Verlag Allert de Lange in deutscher Sprache der Roman Rosenemil [10], Hermanns Schwanengesang auf das Berlin seiner Kindheit und Jugend. Er spielt im Osten der Stadt, im Kiez um die Lothringerstraßer.die heute Torstraße heißt. In einer Kellerkneipe in der Christinenstraße, treffen sich die Hausierer, die Bummelstudenten, die Prostituierten und die Kriminellen, die so sprechende Namen haben wie "PaIisadenkarl", "Kletterwillem" oder "Radaupaula".

Im Kiez praktiziert auch der menschenfreundliche, kunstliebende jüdische Arzt Doktor Levy. Einer von jenen kultivierten älteren Herrn mit einer Schwäche für bildsame junge Mädchen, wie sie uns in Hermanns Romanen öfters begegnen. Ein begeisterter Leser des Rosenemil war übrigens Sigmund Freud, der darin "ein großes Stück vom seltsamen Zauber des garstigen Berlin" entdeckte.[11]

Zuletzt lebte Georg Hermann in Hilversum, unter dürftigen Umständen. Nach der Besetzung Hollands 1940 wurde er nach Amsterdam in ein Getto gebracht, danach ins Durchgangslager Westerbork deportiert. Er war inzwischen 72 Jahre alt, herz-und zuckerkrank, seine jüngste Tochter und deren Sohn waren noch bei ihm. Beide durften nach Palästina ausreisen. Als endlich auch die Ausreisegenehmigung für Georg Hermann eintraf, hatte man ihn bereits verschleppt. Der Transport nach Auschwitz ging am 16. September 1943. Ob er jemals dort angekommen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Als sein Todestag gilt der 19. November 1944.[12]

Dieser Mord war offenbar so gründlich, dass er bis heute nachwirkt. Viele verfolgte und ermordete jüdische Autoren sind inzwischen wiederentdeckt worden und erfreuen sich großer Beliebtheit, Georg Hermann jedoch blieb vergessen. In der Bundesrepublik erschienen ein paar vereinzelte Ausgaben seiner Romane, Kubinke wurde 1966 fürs Fernsehen verfilmt. In der DDR galt er als aufrechter Demokrat und Humanist und seine ausgewählten Werke wurden in relativ hohen Auflagen verbreitet. Nach der Vereinigung 1990 publizierte der Verlag Das Neue Berlin eine Gesamtausgabe, herausgegeben von Gert und GundeI Mattenklott.[13] Diese wunderschöne Edition blieb jedoch unvollendet -wahrscheinlich mangels Leserinteresse -und wird noch immer verramscht. Man sollte zugreifen, wo immer man sie entdeckt, denn Georg Hermanns Bücher sind die besten und sinnlichsten literarischen Stadtführerin das verschwundene Berlin der Epoche zwischen 1900 und 1933.

Anmerkungen

    [1]Georg Hermann: Jettchen Gebert, in: Ders.: Werke und Briefe, hrsg. von Gert und Gundei Mattenklott, Bd. 2, Berlin 1998, S. 7f.
    [2]Georg Hermann: Im Spiegel, in: Ders.: Die Reise nach Massow, Erzählungen und Skizzen, Berlin 1973, S.303.
    [3]Ebd., S. 306.
    [4]Georg Hermann: Jettchen Gebert (wie Anm. 1), S. 189.
    [5]Georg Hermann: Kubinke, in: Ders.: Werke und Briefe (wie Anm. 1), Bd. 4, Berlin 1997.
    [6]Ebd., S.18f.
    [7]Georg Hermann: Die Nacht des Doktor Herzfeld, in: Ders.: Werke und Briefe (wie Anm. 1), Bd. 5, Berlin 1997.
    [8]Georg Hermann: Schnee (wie Anm. 7).
    [9]Georg Hermann: Pro Berlin, in: Ders.: Die Reise nach Massow (wie Anm. 2), S. 356f.
    [10]Georg Hermann: Rosenemil, Berlin 1979.
    [11]Brief Sigmund Freuds an Georg Hermann vom 28.2.1936, zitiert nach: eG. van liere: Georg Hermann.
    Materialien zur Kenntnis seines Lebens und seines Werkes, Amsterdam 1974, S. 51.
    [12]Ebd., S.56.
    [13]Wie Anm. 1.

      Mit Genehmigung des Autors von J.Kluge Mai 2012