1918 bis 1945: Emigranten, Sowjets, Unentschlossene, Monarchisten, Nazis, Kriegsgefangene und Ostarbeiter
Ausstellungsbesuch Russisches Kulturleben im Berlin der 1920er Jahre Besuch der Ausstellung in der Botschaft der Russischen Föderation - Von Martin Mende

Die 1920er Jahre waren ein Höhepunkt der russischen Emigration. Nach der russischen Revolution nahm Berlin zeitweise mehr als 400.000 Russen auf. Fast alle bedeutenden russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts lebten vorübergehend hier oder besuchten die Stadt. Maler, Architekten, Sänger, Schauspieler und Verleger prägten das Kulturleben der Emigranten und lieferten in vielen Bereichen des Berliner Lebens einen beachtlichen Beitrag.

Die Ausstellung will auf die zahlreichen russischen Verlage, Buchhandlungen und Zeitungen in der damaligen Zeit hinweisen. Die Exponate stammen zum größten Teil aus der privaten Sammlung von Dr. Wilfried Matanovic, einem früheren Mitarbeiter des Ministeriums für Bildung und Forschung. Er sammelt seit mehr als 50 Jahren Postkarten und gab 2009 anlässlich einer Ausstellung im Berliner Museum für Kommunikation den umfangreichen Band "Die Ansichtskarte als Zeitzeuge deutscher Geschichte - Berlin im Mittelpunkt von Politik, Kultur und Wirtschaft" heraus. Die Exponate des Malers Nikolaus Sagrekow stellte die Berliner Sagrekow-Galerie und deren Inhaber Alexey Germanovich zur Verfügung. Sagrekow wurde 1897 in Saratow an der Wolga geboren und lebte von 1921 bis zu seinem Tode 1992 in Berlin. Kurator der Ausstellung war der Historiker Dr. Andrej Tchernodarov. (Auszug aus "Das russische Berlin", Berlin 1994 (Senat von Berlin) VI, 72-84)

Das russische Berlin entstand nicht erst 1918 und es existierte lange über die Mitte der 20er Jahre hinaus. Aber in jener Zeit zwischen der Oktoberrevolution und der vorübergehenden Stabilisierung der deutschen Wirtschaft nach 1923, als für viele Russen der Aufenthalt in der Hauptstadt der Weimarer Republik zu teuer wurde, pulsierte das kulturelle, soziale und politische Leben der russischen Emigration in Berlin ' . am heftigsten."Ich weiß nicht, wie viele Russen es damals in Berlin gab; wahrscheinlich sehr viele,denn auf Schritt und Tritt hörte man russisch reden. Dutzende von russischen Restaurants öffneten ihre Pforten mit Balalaikas,mit Zigeunern, mit Gerstenfladen, mit Schaschliks und natürlich mit dem obligaten Sprung in der Seele. Es gab ein Kleinkunst-Theater. Es gab drei Tageszeitungen und fünf Wochenblätter. Innerhalb eines einzigen Jahres waren siebzehn russische Verlage aus dem Boden geschossen (. . .)"

Bis heute ist die genaue Anzahl der russischen Emigranten in den Jahren nach der Oktoberrevolution nicht geklärt. 1921 sollen es in Berlin rund 100000 gewesen sein; noch 1923 suchten 360000 Russen in Berlin Asyl. Eine Art russisches Branchenbuch aus dem gleichen Jahr verzeichnete 48 russische Verlage in Berlin und insgesamt 24 Zeitungen. Es war eine vielgestaltige und -vor allem für Deutsche - unüberschaubare Gesellschaft. Zuerst kamen Adlige, Geschäftsleute und Intellektuelle, die von dem bolschewistischen Regime in Rußland bedroht waren. Viele waren auf abenteuerlichen Wegen geflohen, anderen hatten alte Freunde sowjetische Ausreisevisa besorgt.Wer alte Werte aus Rußland retten konnte,hielt sich ein paar Monate oder Jahre über Wasser, wohnte in deutschen oder russischen Pensionen, besuchte die ersten russischen Restaurants und suchte – früher oder später - Arbeit. Viele waren auf die Hilfe der russischen Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen, von deren Aktivitäten die Meldungsspalten der russischen Zeitungen voll waren, die aber auch zunehmend unter Geldmangel litten. Für die notleidenden Opfer des Bürgerkriegs in Rußland engagierte sich der sozialistische Schriftsteller Maxim Gorki von Berlin aus. Eine Gruppe von rund 100 Geistes- und Naturwissenschaftlern, Juristen und Journalisten, darunter der Philosoph Nikolaj Berdjajew und der Literaturkritiker Juli Ajchenwald, wurde 1922 von den neuen russischen Machthabern ausgewiesen.

Einige von ihnen gründeten in Berlin das"Russische Wissenschaftliche Institut", Es entstand in Berlin damals ein russisches Real-Gymnasium, an den Universitäten gab es Vereinigungen russischer Studenten.Es kamen auch zahllose ehemalige Soldatenund Offiziere der in Rußland von derRoten Armee geschlagenen Bürgerkriegsarmeen nach Berlin.Viele von ihnen lebten noch bis Ende der 20er Jahre in Flüchtlingslagern vor der Stadt. Am sichtbarsten war,neben den russischen Gaststätten, auch für das deutsche Berlin die russische Künstlerkolonie der 20erJahre. Vom russischen Cabaret "DerBlaueVogel" in der Goltzstraße waren nicht nur Kurt Tucholsky und EIse Lasker-Schüler begeistert. Eine der Bühnenbildnerinnen war Xenia Boguslawskaja. Bei der "Ersten russischen Kunstausstellung" in der Berliner Galerie von Diemen zeigte Iwan Puni, der Mann der Boguslawskja seine Bilder. Der Maler und Architekt EI Lissitzky gab gemeinsam mit Iija Ehrenburg die Kunst und Literaturzeitschrift"Gegenstand" heraus. Iija Ehrenburg, der Autor der oben zitierten Zeilen, war einer derjenigen, die man später"Emigranten auf Zeit" nannte.

Nachdem er 1908 aus dem zaristischen Rußland nach Paris geflohen war, kehrte er nach der Februarrevolution 1917 zurück. Schon 1921", ging er wieder nach Paris, wurde aber ausgewiesen und kam so nach Berlin.In den zwei Jahren, in denen sie ständig in Berlin lebten, nahmen Ehrenburg und seine Frau aktiv am   leben der russischen Kolonie teil. Er schrieb für zahlreiche Zeitschriften vor allem für "Das neue russische Buch", gründete die Zeitschrift "Gegenstand'" und besuchte die literarischen Abende im russischen"Haus der Künste", das zu seinen Veranstaltungen ins Cafe Leon am Nollendorfplatz einlud. Wie auch der symbolistische Dichter Andrej Belyj, die Schriftsteller Alexej Tolstoj und Wiktor Schklowskij ging Ehrenburg 1923 zurück nach Rußland. Sie.konnten oder wollten sich in Berlin nicht einleben und nicht,wie beispielsweise der phantastische Schriftsteller Alexej Remizow, nach Paris weiterziehen.

Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs am Ende des ersten Weltkriegs, nach der bolschewistischen Revolution und während des russischen Bürgerkriegs war Berlin aber nicht nur für Emigranten der erste Anlaufpunkt im Westen.Die junge Sowjetregierung entsandte bald politische und kulturelle Vertreter in die Hauptstadt der Weimarer Republik. Beide Gruppen fanden hier Ansprechpartner. Die junge deutsche Demokratie war einerseits eines der wenigen Länder, das russischen Flüchtlingen wenigstens in den ersten Jahren nach der Revolution Asyl gab, ihnen zu Pässen verhalf und Arbeitserlaubnis erteilte. Andererseits näherte sie sich vor allem wirtschaftlich an Sowjetrußland an; Deutschland sah sich durch den Versailler Vertrag diskriminiert;das bolschewistische Rußland wurde international boykottiert. Beide Länder versuchten, die Beschränkungen, die ihnen auferlegt wurden, untereinander auszugleichen. So wurden neben den Treffpunkten und Institutionen der Emigration auch die sowjetische Botschaft. Unter den Linden und die sowjetische Handelsvertretung zu Zentren des russischen Berlins. Zu Besuch aus Sowjetrußland kamen beispielsweise der futuristische Dichter Wladimir Majakowskij und der Schriftsteller Boris Pilnjak. Beide blieben nur wenige Wochen in Berlin, traten hier aber im "Haus der Künste" auf, oder lieferten Beiträge für. "Das neue russische Buch". Pilnjak hatte schon von Rußland aus für die Berliner Emigranten-Zeitung "Nakanune" (Am Vorabend) geschrieben, die von den Bolschewiki finanziell unterstützt wurde und versuchte,bestimmte, "unentschlossene" Kreise der Emigration zur Rückkehr zu bewegen. Berlin war aber keineswegs für alle russischen Emigranten nur Zwischenstation;noch 1928 lebten in Deutschland insgesamt,150 000 russische Flüchtlinge, davon schätzungsweise 75 000 bis 100 000 in Berlin. 1925 kam in Berlin zwar nur noch eine russischsprachige Tageszeitung heraus,"Rul" (Das Steuer). Aber immerhin erschien diese 1920 gegründete Zeitung elf Jahre lang, bis 1931. Die ihr nachfolgende Wochenzeitung "Nasch Wjek" (Unser Zeitalter)erschien bis 1933. Einer der Chefredakteure von "Rul" war - bis zu seiner Ermordung 1924 durch russische Monarchisten- der Vater Wladimir Nabokows. Sein Nachfolger, Josif Gessen, druckte die Verse und Erzählungen des jungen Nabokow. Gessen leitete bis in die Nazizeit hinein den "Verband der russischen Schriftsteller und Journalisten" und emigrierte 1936 nach Paris.1933 wurden noch knapp 10000 Russen in Berlin gezählt. Schon vor der Machtübernahme Hitlers, in der Wirtschaftskrise der späten 20er und frühen 30er Jahre hatten viele Berliner Russen ihre Arbeit verloren.Zahlreiche russisch-jüdische Emigranten,wie der Dichter Michail Gorlin, der noch bis1933 den russischen "Klub der Berliner Poeten" geleitet hatte, emigrierten zum zweiten Mal. Aber nicht allen gelang die Flucht und viele wurden deportiert und ermordet. Eines dieser Opfer ist der Verleger Abram Wischnjak, er starb in Auschwitz.

Von den russischen Emigranten, die in Berlin blieben, gingen nicht alle, wie beispielsweise die Lyrikerin Vera Lourie, in die "inriere Emigration", Schon die erste FlüchtlingsweIle nach der Revolution hatte radikale Monarchisten auch nach Berlin gespült. Sie suchten und fanden den Kontakt zum aufkommendem Nationalsozialismus;durch Hitler hofften sie, doch noch einen Sieg über das bolschewistische Regime in Rußland zu erringen und in ihre Heimat zurückkehren zu können. Zwischen 1933 und 1944 gab eine Gruppe von ihnen in Berlin die radikal anti bolschewistische und antisemitische Zeitung "Nowoje Slowo" (Das neue Wort) heraus.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 wurden sogar Hilfstruppen aus den Reihender russischen Emigration aufgestellt. Aber schließlich wurden nur einige Verbände gegen Partisanen in den besetzten Gebieten eingesetzt. Wehrmacht und SS mißtrauten diesen Russen ebenso, wie sie auch der aus übergelaufenen Sowjetsoldaten gebildeten "Wlassow-Armee" mißtrauten. Die "Wlassow~Armee", die nur kurz vor Kriegsende in der Tschechoslowakei eingesetzt wurde, warb auch unter russischen Kriegsgefangenen in Berlin um Freiwillige.Gemeinsam mit den "Ostarbeitern", sowjetischen Männern, Frauen und Kindern, die aus den von den deutschen Truppen besetzten Gebieten deportiert worden waren, wurden sie in Berliner Industrie-,und Rüstungsbetrieben zur Arbeit gezwungen. Noch im Frühjahr 1945 arbeiteten in Berlin 100 000 "Ostarbeiter" und einige tausend sowjetische Kriegsgefangene. Die Lebensbedingungen in den sogenannten "Stalags"oder auch "Russenlagern", wie es sie beispielsweise am Bahnhof Beusselstraße(Tiergarten), in der Greifswalder Straße. (Prenzlauer Berg) oder Am Juliusturm (Spandau) gab, waren entsetzlich.Im Gegensatz zu anderen ausländischen Zwangsarbeitern durften die Russen ihre Lager nur unter strengster Bewachung, zur Arbeit, verlassen. Ihre tägliche Essensration bestand aus drei TeIlern dünner Kohlrübensuppe und 300g Brot. Trotzdem mußten sie schwerste Arbeit verrichten. Die hygienischen Verhältnisse waren sehr schlecht, Krankheiten wie Tuberkulose wüteten auch unter Kindern und Jugendlichen.

Weitere Links zu dem Thema:
http://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/aktuelles/reden/artikel.199715.php
(Herzlich willkommen in Charlottenburg-Wilmersdorf – oder, wie man in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts sagte und manche auch heute wieder sagen: in “Charlottengrad”.....)

http://russische-botschaft.de/de/2014/10/24/ansprache-des-botschafters-wladimir-grinin-auf-der-eroffnung-der-ausstellung-das-russische-kulturleben-im-berlin-der-1920er-jahre-2/
Ansprache des Botschafters Wladimir Grinin auf der Eröffnung der Ausstellung „Das russische Kulturleben im Berlin der 1920er Jahre“
Oktober 24, 2014

http://www.lbz-rlp.de/Inhaltsverzeichnis/6740535.pdf
Karl Schlögel Herausgeber
Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941