Das Nicolaihaus: Geistiges Zentrum des Berliner Bürgertums
Von Dieter Beuermann und Cem Sengül

Bene qui latuit bene vixit.
Diese Sentenz des Ovid, „glücklich lebte, wer in glücklicher Verborgenheit lebte“, war nach Auskunft des Berliner Ägyptologen Gustav Parthey (1798-1872) der Wahlspruch seines berühmten Großvaters Friedrich Nicolai (1733-1811), dem einflussreichen Verleger und Programmatiker der deutschen Aufklärung, dem „Begründer unseres literarischen Lebens“ (Marcel Reich-Ranicki). Dass dieser verdienstreiche, geschäftstüchtige und beizeiten streitlustige Berliner Aufklärer damit seine Bevorzugung eines zurückgezogenen häuslichen Lebens zum Ausdruck brachte, mochte bei aller Öffentlichkeit, die er in seinem Wirken gesucht und geprägt hat, die Zeitgenossen verwundert haben. 200 Jahre später lassen sich die Spuren Nicolais in seiner Heimatstadt nicht mehr auf den ersten Blick finden. Man muss schon als Flaneur zufällig auf das Lessing-Denkmal im Berliner Tiergarten stoßen und in den Sockelreliefs neben Moses Mendelssohn und Ewald von Kleist den gemeinsamen Freund Nicolai entdecken; oder an der Alten Jakobstraße in Mitte auf dem ehemaligen Luisenstädtischen Friedhof die vor einigen Jahren aufgestellte Stele bemerken, mit der u. a. an den auf dem dortigen Kirchenacker (das Gotteshaus wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt) beigesetzten Nicolai erinnert wird; oder an der Steglitzer Rheinstraße das Profil Nicolais im Schaufenster der Nicolaischen Buchhandlung erkennen; oder als Germanist oder Historiker mit dem über 20.000 Briefe zählenden Nachlass in der Staatsbibliothek Berlin in Berührung kommen.

Viel einfacher und naheliegender allerdings wäre der Besuch in der bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an das Berliner Schloss führenden Brüderstraße, denn dort befindet sich in der Nachbarschaft des ehemaligen Hertzog-Kaufhauses, des historischen Galgenhauses und der Sächsischen Landesvertretung das nach dem Aufklärer benannte Nicolaihaus. Allein, so schreibt jüngst Nikolaus Bernau, handelt es sich dabei um „einen der am besten verborgenen Schätze Berlins“. Nein, das Nicolaihaus ist in der Tat kein aufdringliches Palais, es geht regelrecht auf Distanz zur preußischen Prachtarchitektur des 18. Jh. Es ist ein bescheidenes und gleichermaßen selbstbewusstes bürgerliches (wenn auch großzügiges) Wohn- und Geschäftshaus. Bei der sich nach Nicolais Geschmack durch „edle Simplicität“ auszeichnenden Fassade verzichtete der Architekt und Freund Carl Friedrich Zelter (1758-1832), der die Umbauarbeiten plante und ausführte, völlig auf Verzierungen und herrschaftliche Insignien (auf die Buchhandlung wies lediglich ein Homer-Kopf, das Verlagssignet Nicolais, hin). Das Bürgerhaus bietet im Innern mit seinen zahlreichen großen und kleinen, teilweise verwinkelten Räumen sowohl Orte der gesellschaftlichen Begegnung als auch Rückzugsmöglichkeiten. Nicolais Salonkultur, die geschätzten Konzertabende, über die Gudula Schütz in ihrer Studie zu Friedrich Nicolai und die Musik berichtet, versammelten Familienmitglieder, Berliner und auswärtige Freunde, Bekannte und neue Gäste. Den Berlin-Besuchern des 18./19. Jahrhunderts galt das Nicolaihaus bald als Sehenswürdigkeit. Der heute von einem Walnussbaum und weinberankten Seitenflügeln geprägte Innenhof wird von Kennern regelmäßig als Idylle gelobt und wurde bis vor einem Jahrzehnt für Theater- und Musikdarbietungen genutzt. Verborgenes deutet sich Brüderstr. 12-14 wiederum in den Kellergewölben, in dem mittlerweile ausgebauten Dachboden, in dem bis zum Ende des 19. Jh. die nachgelassene Bibliothek Nicolais aufbewahrt wurde, oder in den heute nicht mehr vorhandenen Geheimgängen an. Nicolais Enkelkinder Lilli (1800-1829) und Gustav, beide einfühlsame Chronisten des Berliner 19. Jh., haben das eine oder andere Geheimnis des Nicolaihauses festgehalten:„Der Eintritt in die Studirstube erregte uns Kindern immer ein Gefühl der Befangenheit, aber unbeschreiblich war unser Erstaunen, als wir eines Tages sahen, wie der Grosvater die Thür eines Bücherschrankes öffnete, hineintrat und nicht wieder zum Vorschein kam. Wie sollte für den großen, starken Mann in dem schmalen Schranke sich Raum finden? Nach kurzer Zeit trat er wieder ein. Wir wagten nun auch, den Schrank zu öffnen, und fanden, daß diese Vexirthür in ein daneben liegendes Kabinet führte, dessen Wände bis an die Decke hinauf mit Büchern tapezirt waren. Diesen Ausgang hatte der Grosvater angelegt, um sich den Umweg durch den Bibliotheksaal nach seinem Schlafzimmer zu sparen. Als mein Vater [Friedrich Parthey, 1745-1822] später das Zimmer bewohnte, wurde die Thür nach dem Bibliotheksaale verschlossen, um den bequemeren Eingang durch das Kabinet zu haben; da sahen wir denn oft, nicht ohne innerliches Ergötzen, wie manch ein Fremder, der durch die Vexirthür eingetreten war, beim Abschiede sich umwendend, verwundert vor dem Bücherschranke stehn blieb, und den Ausgang nicht finden konnte.“

Mit einigen Schlaglichtern sei die Historie der Berliner Brüderstraße 13 andeutungsweise erhellt. Bis ins 16. Jh. reichen die ersten Erwähnungen eines Hauses zurück. Allerdings wird dieses bei einem Brand 1674 bis auf die Grundmauern zerstört, auf die der damalige Eigentümer und Cöllner Bürgermeister Brandes erneut bauen lässt. Zu Beginn des 18. Jh. werden die Seitenflügel errichtet sowie ein zweites Obergeschoss. Zwischen 1747 und 1773 ist das Gebäude Eigentum und Wohnhaus des Porzellan-Fabrikanten Johann Ernst Gotzkowsky (1710-1775). Anderthalb Jahrzehnte später wird es von Friedrich Nicolai im Jahre 1787 für Verlag, Buchhandlung und Privatwohnung erworben und durch Carl Friedrich Zelter umgebaut. Es ist ein bis heute hartnäckiges Gerücht, dass die Freunde Nicolais, Lessing und Moses Mendelssohn in der Brüderstraße 13 ein- und ausgegangen seien. Freilich gehörten sie, besonders Mendelssohn, zum engsten Freundeskreis. Beide starben jedoch, bevor Nicolai das Haus erwerben konnte: Mendelssohn 1786, Lessing bereits 1781. Nach Nicolais Tod bleibt das Haus, dem es an prominenten Mietern und Gästen nicht mangelt, für viele Generationen im Besitz der Familie Parthey. Für das 19. Jh. sind Elisa von der Recke (1756-1833), Christoph August Tiedge und die Pastorenfamilie Jonas zu nennen, an die einige der acht Gedenktafeln an der Fassade des Nicolaihauses erinnern.

Bis zum Ende des Jahrhunderts war auch die später veräußerte Verlagsbuchhandlung dort untergebracht. Für das 20. Jh., in dem ab 1928 sämtliche Gedenktafeln angebracht wurden, ist vor allem die Ära des Lessing-Museums (1910-1936) zu nennen, die dem Nicolaihaus eine neue Nutzungsform bescherte. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezog das DDR-Institut für Denkmalpflege 1954 das Nicolaihaus, nach der Wende bis 1998 ist es Sitz des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege. In jener Zeit wurde nicht nur eine Sanierung vorgenommen, durch die sich Zelters bauliche Umgestaltungen bis heute erhalten haben; 1977 wurde das Nicolaihaus zudem unter Denkmalschutz gestellt. In Turbolenzen gerät das Nicolaihaus in jüngerer Vergangenheit: Im Jahre 2000 weist der Senat nach Leerstand das Gebäude der Stiftung Stadtmuseum zu, die sich nach einigen Ausstellungen vom musealen Betrieb zurückzieht, während die Museumsbibliothek bis heute zugänglich ist. 2007 beschließt der Berliner Senat den Übergang des Hauses in den Liegenschaftsfonds; mit dem Erlös soll ein kleiner Teil der Kosten für die Erweiterung des Stadtmuseums (Stichwort Marinehaus) gedeckt werden. Diese Nachricht alarmiert die besorgten Liebhaber des Hauses, seien sie als Kenner der Berliner Kultur, als Denkmalpfleger, als Forscher oder in irgendeiner Weise mit dem Nicolaihaus verbunden. Im letzten Jahr gründet sich schließlich ein Freundeskreis mit dem Ziel der Würdigung und Wiederbelebung des Nicolaihauses (vgl. www.freundeskreis-nicolaihaus.de).

Eine der wichtigsten Ären stellt die Zeit des Lessing-Museums dar, das kurz nach der Gründung im Jahre 1908 sein Stammhaus am Berliner Königsgraben verlor und im Nicolaihaus, wo es am 2. Oktober 1910 eröffnet wurde, eine passende Umgebung fand. Mit der Übersiedlung in das Nicolaihaus wurde eine neue, die längste Phase des Lessing-Museums eingeläutet. Neben den allwöchentlichen Vortrags-, Diskussions- und Bühnenveranstaltungen stand die museale Inszenierung des 18. Jh. im Vordergrund. Lessings Wirken im friderizianischen Berlin, seine Werke, seine Beziehungen, Mendelssohn, Nicolai, aber auch Goethe und Wagner erfuhren ihre kulturgeschichtliche Reverenz. Auch einem größeren Modell des 1890 errichteten Lessing-Denkmals wurde ein Raum gewidmet. Man hat es bei diesem Museum mit einem Beispiel des kulturellen Zusammenwirkens deutscher Juden und Christen zu tun, wie auch der Blick in die umfangreiche Liste der aktiven und passiven Mitglieder zeigt. Der jüdische Kulturhistoriker und Reformer Ludwig Geiger wirkt im Vorstand neben dem Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß und dem Bankier und Wirtschaftsfunktionär Franz von Mendelssohn. Im Ehrenbeirat finden sich Max Liebermann und Gustav Stresemann, die Literaturhistoriker Erich Schmidt, Paul Kluckhohn und Georg Witkowski sowie Josef Nadler. Erstaunlich ist auf der anderen Seite, dass das Lessing-Museum nach dem Zweiten Weltkrieg weniger Interesse hervorgerufen hat. Weder in der Forschung noch in der   Stadtgeschichtsschreibung lässt sich eine fundierte Auseinandersetzung finden. Diesem wichtigen Desiderat nachzugehen und Licht in die Wahrnehmung des Museums bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1936 zu bringen, wäre sehr wünschenswert.An dieser Stelle schließt sich freilich auch die Frage nach dem Schicksal des Nicolaihauses zwischen 1936 und 1945 an. Bedauerlicherweise fand die Annäherung an die jüdisch-christliche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin ohne die Bezugskoordinaten Nicolaihaus, Lessing-Museum, Lessing-Denkmal statt.

Diese sind in Vergessenheit geraten und spielen in der Suche nach Anknüpfungspunkten an das jüdische Berlin Ende des 19., Anfang des 20. Jh. gegenwärtig keine Rolle. Im Zuge der Aufwertung Lessings und Gartenansicht Nicolaihaus, Brüderstr. 13, 1934 der deutschen Aufklärung seit den 1970er Jahren liegt noch immer hohes Potential an diesem geschichtsträchtigen Ort, dem unter der Ägide der Stiftung Stadtmuseum leider nicht nachgegangen wurde.Dem heutigen Besucher des Nicolaihauses bleibt die Geschichte des historischen Gebäudes hingegen noch verborgen. Wenige werden zielstrebig wie Ende der 1880er Jahre der jüdische Journalist und Schriftsteller Julius Rodenberg (1831-1914), gebürtig Julius Levy aus dem damals hessischen Rodenberg, das Haus des Aufklärers ansteuern. Auf seiner Spurensuche nach Mendelssohn und Nicolai, nach Rudimenten der Aufklärungsepoche in Berlin, erbittet er Eintritt in das Nicolaihaus und wird von der Nicolai-Urenkelin Veronica Parthey empfangen und durch das Haus geführt. Eine der letzten Stationen des Besucheserfährt Rodenbergs besondere Aufmerksamkeit: Nicolais Arbeitszimmer, die Schaltzentrale der deutschen Spätaufklärung:„[I]ch ging die Holztreppe hinan, in deren Stufen leichte Eindrücke anzudeuten scheinen, daß hier eine Generation nach der andern auf und abgestiegen. Ein eigner Reiz und Zauber webt um solch alte Wohnungen. Es weht ein sanfter Blumengeruch in ihnen, wie von Waldmeisterkränzen, die lange ihren Duft behalten, auch wenn sie schon verwelkt sind. Die weißlackierten Türen, der Tritt vor dem Fenster, die altmodischen Möbel, die mancherlei kleinen Andenken, Porzellan und Bücher und Bilder und das Halbdunkel, das in allen diesen hohen Räumen herrscht, sie geben zusammen uns das Bild und Gefühl der Wirklichkeit, aber einer weit entrückten.

Frau Veronica Parthey war meine gütige geduldige Führerin. Im Vorzimmer hängen Familienporträts, zwei von Nicolai, ferner das seiner Gemahlin [Elisabeth Macaria Nicolai, 1741-1793], seiner Freundin Elisa von der Recke, die so gut wie zur Familie gehörte, beide von Graff gemalt. [...] Zu jedem Bild an der Wand, zu jedem Buch auf dem Tische [...] gab Frau Parthey mir den wünschenswerten Kommentar. Sie geleitete mich durch einen langen Gang, wo einst die Bibliothek Nicolais aufgestellt war und eine alte Uhr noch mit dem selben Ticktack und Silberklang, den einst vor hundert Jahren Nicolai und die Seinen gehört haben, die verrinnenden Stunden zählt. Aus dem Gang gelangt man in das Arbeitszimmer Nicolais, das noch ganz erhalten ist, wie er es verlassen hat, mit den Bänden und Büchern, den Mappen und Folianten, dem Schreibtisch, dem Spinett und einem Kasten, in welchem das Brautgewand seiner Gattin aufbewahrt wird. Bis hier herauf reichen die Baumwipfel des Gartens, und es ist ein gar liebliches Rauschen in dieser Einsamkeit, wenn der Sommerwind sie bewegt.“Rodenberg entdeckte das Nicolaihaus für sich. Heute ist es an der Zeit, dass es den Berlinerinnen und Berlinern einfacher gemacht wird, eines der Wahrzeichen nicht nur der Berliner sondern der deutschen Aufklärung, eines der wenigen erhaltenen Berliner Bürgerhäuser, ihr Nicolaihaus kennen zu lernen und es aus der so viele Jahre anhaltenden Verborgenheit zu lösen. Im Februar 2009 wird in den Medien eine Aufsehen erregende Nachricht verbreitet. Nachdem der renommierte Suhrkamp-Verlag den Umzug des Verlagshauses nach Berlin für das kommende Jahr bekannt gegeben hat, teilt der Berliner Staatssekretär André Schmitz mit, er habe das traditionsreiche Nicolaihaus als neuen Verlagssitz vorgeschlagen. Wäre diesem Engagement Erfolg beschieden, könnte sich die neue Trägerschaft durch einen modernen Verlag als ein Glücksfall für das Nicolaihaus und für dessen Zukunft als eine symbolhafte Bindung herausstellen.

Literatur:
Ebert, Marlies; Hecker, Uwe: Das Nicolaihaus. Brüderstraße 13 in Berlin. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Stadt Berlin. Berlin 2006;
Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Handschrift für Freunde. Berlin 1871;
Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben. Hg. von Gisela Lüttig. Berlin 1987;
Schütz, Gudula: Vor dem Richterstuhl der Kritik. Die Musik in Friedrich Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek“, Tübingen 2007.