Berlin zur Biedermeierzeit

In der öffentlichen Sitzung vom 12. Dezember 1920, die in der Aula des Gymnasiums zum Grauen Kloster stattfand, hielt unser Mitglied Herr Studienrat Dr. Franz Lederer einen mit großem Beifall aufgenommenen Lichtbildervortrag über die Zeit des Biedermeier (1815 bis 1848). Das Biedermeier steht im Gegensatz zum Rokoko. Das Rokoko war die Zeit der äußeren Prachtentfaltung, der jedoch die innerer Wärme fehlt; das Biedermeier dagegen zeigt überall die innere Wärme ohne äußeren Glanz. Und das ist auch natürlich; denn Berlin war durch die Kriege mit Frankreich arm geworden. Die Folge davon war Bescheidenheit und Einfachheit in allen Verhältnissen des Lebens.

Diese Einfachheit ist der Grundzug der Biedermeierzeit: Einfachheit in den Wohnungseinrichtungen, der Kleidung, den Vergnügungen und der Kunst. Diese Anspruchslosigkeit artet häufig in Spießbürgerlichkeit aus; in der Politik wird sie zur Kleinlichkeit. Die Kleinstaaterei blüht weiter; wer den Traum vom einigen Deutschen Reiche träumt, wird verfolgt, der Unterricht scharf beaufsichtigt, das Turnen verboten, die Turngeräte als altes Holz verkauft. Also politisch keine erfreuliche Zeit; desto mehr aber in gewerblicher und kultureller Hinsicht.

Die Einführung der Gewerbefreiheit (1815) und die Gründung des Deutschen Zollvereins (1833/34) fördern Gewerbe und Handel außerordentlich, bewirken aber auch eine Verschiebung des Gewerbes, indem die Provinz als Konkurrent der Hauptstadt an die Seite tritt und wegen der günstigeren Produktionslage manche alteingesessene Berliner Gewerbe (Kalk-, Ziegel-, Branntweinbrennerei, Schiffbau, Spinnerei, Weberei) an sich zieht, während die Hauptstadt immer mehr fertige Einzelteile zu einem Ganzen verarbeitet (Bekleidung). Besonders wichtig wird der Aufschwung in der Metallindustrie; 1. Dampfmaschine 1799, 1. deutsche Lokomotive 1841. Auch in der Zigarren- und Ofenfabrikation (Feilner) wird viel geleistet, große Geschäfte entstehen in Berlin, ja sogar Gewerbeausstellungen werden veranstaltet (1822, 1837).

Die Bautätigkeit setzt nach den Freiheitskriegen wieder ein. Schinkel wird maßgebend zunächst im Sinne der Romantik als Wiederbeleber der Gotik (u.a. Spitzsäule auf dem Kreuzberge, Friedrichs-Werdersche Kirche), dann, den einfachen bescheidenen Geist seiner Zeit richtig erfassend, als Erneuerer der einfachen Formen der Antike (Neue Wache, Museum usw.).

Dem Aufschwung des Gewerbes und der baulichen Entwicklung folgt die Steigerung des Verkehrs. Aus der Zeit der gemütlichen, stets kritisierten Postkutsche, der Torwagen, Kremser und humorvollen Droschkenkutscher kommen wir in die Zeit der Eisenbahn (1838). Im Jahre 1831 richtete der Oberpostmeister Nagler sogenannte Briefsammlungen ein, in denen täglich 6 mal unfrankierte Briefe entgegengenommen wurden, die, meist mit Fettflecken versehen, ziemlich schnell innerhalb der Stadt befördert wurden.

Mit der Hebung des Verkehrs verbindet sich der Wunsch nach Nachrichten aus der umliegenden Welt, und so entstanden die "Lesekonditoreien", die je nach der Art ihrer Gäste verschiedene Färbung hatten. Bei Josty an der Stechbahn verkehrten die alten Militärs, bei Spargnapani Unter den Linden der Geheimrat, bei Stehely am Gendarmenmarkt die Jugend: die Journalisten, Schauspieler und Literaten. Bei Fuchs Unter den Linden herrschte der vornehme Luxus, bei Kranzler der Gardelieutenant. Was die Konditoreien für die Gebildeten waren, waren die "Tabagien" für die niederen Volkskreise. Hier gab sich der Handwerker mit seiner Familie dem Frohsinn und dem Tanze hin.

Köstliche Proben der anspruchslosen Gemütlichkeit jener Zeit, aber auch des Selbstbewußtseins, das wie immer auch damals den echten Berliner zierte, geben uns die Bilder Hosemanns, Dörbecks und Krügers und die Schilderungen Glaßbrenners.
Die Zunahme des Verkehrs zwingt den Magistrat, für bessere Beleuchtung (1826 erstes Gas) und Pflasterung der Straßen zu sorgen. Die schreckliche Cholerafurcht 1831 wird hauptsächlich durch die Herzhaftigkeit der Berliner Straßenjungen überwunden. Die Theaterfreudigkeit der Zeit feierte Triumphe in der Verehrung der Henriette Sonntag und des Komikers Beckmann, der lange vor Glaßbrenner mit seinem "Eckensteher Nante" die Berliner Mundart in die Literatur einführte. Das sehr rege entwickelte gesellschaftliche Leben, dem wir u. a. die berühmten "Salons" verdanken, bleibt durchaus bescheiden in seinem Auftreten. Einfach und praktisch ist auch die Wohnungseinrichtung (Runder Tisch, Sekretär, gute Stube, Servante). - Die Mode, einfach, aber stets kleidsam, ist nicht einheitlich, sondern ändert sich von Jahr zu Jahr und kann besonders an der Entwicklung des Ärmels (Hammelkeule, Elefantenärmel) studiert werden. Die Hauptzier der Frau, die sich mit Bändern und Schleifen zu schmücken pflegt, bleibt die schlanke Taille (Wespentaille), die des Mannes die bunte Weste.

Der Redner bemerkte zum Schluß, daß er sich bemüht habe, Licht- und Schattenseiten der Biedermeierzeit zu zeigen, und daß das Wort von der g u t e n alten Zeit nicht ganz passe. Aber in dem Sinne, wie wir es gewöhnlich auffassen, gelte es doch: man war damals nicht nervös und anspruchsvoll; man hatte noch Freude am Kleinen und besaß die nötige Ruhe, sich das Leben behaglich und geschmackvoll zu gestalten. Und mit dieser Behaglichkeit kehrte das Glück in die Herzen ein. Und das ist es, was den meisten Menschen heute fehlt und uns die Biedermeierzeit so sympathisch macht.

Aus: "Mitteilungen" 38, 1921, S. 1-2.

Anmerkung der Redaktion: Die ablehnende Beurteilung des Rokoko ist heute überholt. Das Biedermeier hat sich in seinem Rückzug auf das Private aus dem Rokoko entwickelt. Wer das "nachsehen" möchte, besuche an einem Tag die Räume Friedrichs II. im Schloß Charlottenburg und danach den benachbarten Schinkelpavillon mit seiner Einrichtung der Biedermeierzeit. Wertvolle bürgerliche Einrichtung des Biedermeier zeigt das Knoblauchhaus in der Poststraße, Berlin-Mitte.
Gerhild H. M. Komander 11/2003